Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
bemerkt, dass sich über der Weser ein zarter Dunstflaum gebildet hat. Er überlegt nicht lange, läuft zur Garderobe, reißt seinen Mantel herunter und stürzt zur Tür hinaus.
»Wo willst du denn hin?«, ruft ihm die Mutter hinterher.
»Nur kurz zu Dralle«, hallt es aus dem Treppenhaus zurück.
Der Himmel ist noch nicht vollständig dunkel, seine Farbe schwankt zwischen Preußischblau und Nordseeanthrazit, doch wie erhofft hat Frau Dralle schon die Petroleumlampen entzündet. Das abfließende Tageslicht vermischt sich mit ihrem warmen Glanz, Menschen und Dinge erscheinen, als wären sie alle von der gleichen sicheren Hand an ihren Ort gestellt worden: wie auf einem Bild. Viele Kinder sind es nicht mehr, die zu dieser Stunde auf den großen Karussellfiguren sitzen, hier ein Junge im Schiff, dort ein anderer in der Kutsche. Eben hilft Herr Dralle noch einem Mädchen im roten Mäntelchen aufs Pferd, dann setzt sich das Karussell in Bewegung. Martin betrachtet es bloß. Dass jeder Sinn seine eigenen Gesetze hat, weiß er bereits, seit er, angelehnt an das schmiedeeiserne Turmgeländer und bewaffnet mit dem Feldstecher des Vaters, die wuchtigen Hammerbewegungen der Werftarbeiter am gegenüberliegenden Ufer verfolgt und dabei ihre Schläge erst deutlich später gehört hat. Nun gehen die verfeinerten Sinne aber noch einen Schritt weiter. Martin hat es gestern zum ersten Mal erlebt, und nun will er es wieder erleben, wie sie miteinander zu spielen und tanzen beginnen, und wird plötzlich etwas bemerken, das kaum noch mitteilbar ist:
Eines Tages fiel mir auf, als ich draußen vor dem Karussell stand, dass unter dem Zeltdach in der Mitte des Ganzen eine Reihe von Figürchen in einer Art von kleinem Saal sich aufhielt. Jede einzelne war verschieden von allen anderen und obwohl sie meistens paarweise angeordnet waren, machte jede eine Tanzgebärde, in der sie erstarrt zu sein schien. Das wurde aber anders, wenn die Musik der Orgel den Püppchen in die Glieder fuhr und wenn nun unten das Karussell sich in Bewegung setzte. Aus der großen Welt, die in Bewegunggeraten war, übertrug sich etwas wie ein außerordentlich anmutiger, sublimierter Extrakt in den kleinen Saal und ließ die darin befindlichen Püppchen lebendig werden, bis die Musik verklungen war und das Karussell wieder stillstand. Was Wunder, dass bei diesem Beobachten auch die Musik, die immer damit verbunden war, Melodien aus »Carmen«, »La Traviata« und anderen Opern unter anderem, sich unvergesslich tief in die Seele einprägte. Dieses Geschehen, an dem ich oft und oft sehr aufmerksam teilnahm, führte nun dazu, dass Gefühle des Vertrauens, der Hochachtung und der Wertschätzung während des stillen Anschauens in mir wuchsen und sich zu bestimmten Formen ausgestalteten, die ohne das Zusammentreffen all der Umstände, in denen sie Gestalt gewannen, in dieser besonderen Weise gar nicht hätten zustande kommen können. Gerade, dass ich in heller Wachheit teilnahm an Geschehnissen, deren innerer Zusammenhang mir nur ganz undeutlich zum Bewusstsein kam, führte nun zu Gelegenheiten, im vollen Miterleben mit den Einzelheiten doch noch etwas mehr gewissermaßen zu sehen, als sich mechanisch nüchtern beschreiben lässt. Zwischen den Kindern, die da in der Kreuzung Weserstraße-Breite Straße umherliefen oder standen und den Mitgliedern der Familie Dralle, die jedes Jahr das Karussell wieder aufbauten, in Stand halten und in Betrieb nehmen mussten, bildete sich durch solche zusätzlichen Beiträge von allen Seiten her, wie sie als Gefühle des Vertrauens, der Hochachtung und der Wertschätzung geschildert worden sind, eine menschlich warme Atmosphäre des gegenseitigen Verständnisses und der wechselseitigen Förderung in Bezug auf gute Laune und Wohlwollen heraus, die in der Erinnerung durchaus gleichberechtigt neben alles treten kann, was in der Schule gelernt werden musste, um gedanklich mit den Ereignissen des Lebens einigermaßen fertig zu werden.
Der lange Satz voll gewichtiger Substantive wirkt ein wenig umständlich. Es ist nicht einfach, Gefühle zu beschreiben. Doch der Versuch ist bemerkenswert. Man hat es ja nicht mit einem unbeholfenen Geständnis zu tun oder mit unsicherer Lyrik. Es geht nicht nur um Gefühle. Vielmehr spiegelt sich die Darstellung des Gefühls in der Darstellung von etwas anderem (ohne deshalb aber zur Metapher zu werden). Ebenso ausführlich und präzise will Martin sein Innenleben wiedergeben wie zuvor eine anschauliche
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