Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Erscheinung. Worum es ihm geht, ist ein Zustand, der Grenzen unwichtig werden und dennoch nicht verschwinden lässt: die Grenzen zwischen den einzelnen Sinnen, zwischen innerer und äußerer Welt, zwischen einander unbekannten Menschen. Doch keine rauschhafte Aufhebung des Unterschiedenen ist gemeint, sondern seine Orchestrierung. Man kennt den geheimnisvollen Mechanismus nicht, der die große Bewegung der Holzpferde mit der kleinen Bewegung der tanzenden Puppen verbindet. Man weiß nur, dass Pferde und Tänzer um dieselbe Mitte kreisen und ihre Bewegung exakt so lange andauert wie die Musik der Drehorgel. Damit treten Bild und Ton in ein ganz eigenartiges Verhältnis: Sie sind weder so deutlich geschieden wie bei den Hammerschlägen am anderen Ufer, noch sind sie so eins wie bei einem einstürzenden Haus aus Bauklötzen. Sie sind einander ähnlich. Die Musik entspricht dem Anblick ebenso wie die kleinen Bewegungen den großen, ohne dass man zu sagen wüsste, ob eines das andere verursacht. Ebenso entspricht die äußere Welt der inneren. Nur deshalb kann Martin ja behaupten, er sehe das, was er wenig später als Gefühl bezeichnet. Und auch die Stimmung der anderen Anwesenden entspricht der eigenen, alle haben teil an einer Atmosphäre des freundlichen Wohlwollens.Wäre Martin aufgefordert worden, diesem vielfältigen Ausdruckserlebnis einen Namen zu geben, er hätte gesagt: Harmonie.
Ich kann nicht behaupten, Onkel Martin persönlich gekannt zu haben. Als ich vielleicht fünf Jahre alt war, wurde mir in der Weserstraße zwar mal ein alter, nach fremder Seife riechender Mann dieses Namens vorgestellt. Aber wer bitte sollte das sein? Einen solchen Onkel gab es doch gar nicht. Da gab es Onkel Heinz, der war zuerst das Vorbild meines Vaters gewesen, und dann war er gestorben. Und dann Onkel Jan natürlich, der kam zu jedem Fest und war immer freundlich. Doch als der sogenannte Onkel Martin plötzlich vor mich hingestellt wurde, war das, als hätte man mir die Existenz eines dritten Geschlechts oder eines zweiten Mondes enthüllt, etwas, das es von Natur aus nicht geben konnte. Instinktiv wandte ich mich von ihm ab. Auch erschreckte mich seine verwachsene Gestalt. Und dann war da noch der Klang dieses seltsamen Wortes: Dedeär. Andauernd fiel es, wenn von ihm die Rede war, es klebte so fest an ihm, als hieße sein Buckel so. Man redete mir zu, ihn ins Dachzimmer des Turms zu begleiten. Als ich mich weigerte, spürte ich nicht seine Enttäuschung, sondern die meines Vaters. Also gingen wir zu dritt. Es dauerte lange, bis wir ganz oben waren. Am Fenster stand ein in den Himmel gerichtetes Fernrohr, vor dessen hinteres Ende ein weißes Papier gespannt war. Onkel Martin sprach mit leiser Stimme von Dingen, die ich nicht verstand. Ich wich seinem Blick aus. Während mein Vater mich zu Interesse und Enthusiasmus drängte, zupfte ich an seiner Hose. Es war mit Händen zu greifen, wie sehr er sich wünschte, ich würde auf diesen alten Mann einen guten Eindruckmachen. Stattdessen verhielt ich mich wie ein Kind, von dem man erwartet, dass es einen guten Eindruck macht.
Wieder sprach Onkel Martin das Wort aus: Sonnenflecken.
Obwohl ich sie ja schon gesehen hatte, zeigte er noch einmal auf die blassen Punkte, die sich da auf dem Papier abzeichneten. Doch ich blieb verschlossen. Ohne dass ich Worte dafür gehabt hätte, steigerte sich das Unbehagen, das ich immer in der Weserstraße empfand, auf dem Turm zur Qual. Ich verkrampfte, weil ich mich wie ein Körperteil meines Vaters fühlte. Was immer ich tat oder ließ, ich sah mich mit seinen Augen an, so wie ich fühlte, dass er selbst sich mit den Augen der anderen Familienmitglieder ansah. Er wollte von ihnen dafür geschätzt werden, dass sein Sohn alles richtig machte, was mal dieses, mal jenes heißen konnte: Zurückhaltend sollte ich sein, wenn die Erwachsenen sich unterhielten; mitteilsam, wenn sie mich etwas fragten; gut vorbereitet, wenn es an die künstlerischen Darbietungen ging; hingebungsvoll, wenn gesungen wurde; und ausnahmsweise auch mal neugierig, aber nur, damit man dem Familiengenie aus der Zone etwas zu bieten hatte. Dabei wollte Onkel Martin gar nicht beeindruckt werden. Er warb nicht um mich, so wenig wie ihn mein Unwille zu stören schien. Er wirkte weder enthusiastisch noch gleichgültig. Er ließ einfach geschehen, was geschah. Und vielleicht fühlte er sich zu dieser Begegnung genauso genötigt wie ich.
Jahre später, es muss Ende 1985 gewesen sein, lag
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