Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
auf dem Gabentisch meines Vaters ein Brief. Ich bat, ihn lesen zu dürfen, weil er sich von der üblichen Weihnachtspost zu unterscheiden schien. Den Brief seiner Eltern hatte mein Vater wie immer ausdruckslos gelesen und dann zur Seite gelegt, genauwie den seiner ältesten Schwester. Dieser aber hatte ihm einiges abverlangt. Hier ein Schmunzeln, dort ein Kopfschütteln, gefolgt von einem Stirnrunzeln, dann lange Konzentration. Wenn ich richtig verstanden hatte, war es vor allem die selbstverständliche Rede von Engeln gewesen, die ihn erstaunt hatte. Als er meiner Mutter davon erzählte, wirkte es, als bäte er sie um Hilfe in einer Frage, die ihm unendlich fernlag, aber nicht verrückt erschien. Im Gegenteil, er sprach mit großem Respekt vom Absender. War es vielleicht gar keine Bitte, die er da an seine Frau richtete, sondern ein Hinweis? Ein unbeholfener Versuch, sich noch einmal für sie interessant zu machen? Sieh mal, solche Verwandten habe ich auch, hätte es dann bedeutet. Neulich erst hatte meine kleine Schwester unsere Mutter gefragt, was man sich denn unter einem Engel vorzustellen habe. Sie hatte lange nachgedacht und dann geantwortet, Albert Schweitzer und Gandhi seien wohl welche gewesen, wogegen mein Vater der Form halber protestierte, ohne das aber begründen zu können. Doch jetzt hatte sie auf seinen Bericht wortkarg reagiert. Engel bei den Leos interessierten sie offenbar nicht. Auch mich machte die Lektüre des Briefes ratlos. Die entscheidenden Stellen blieben mir rätselhaft, sie waren noch unverständlicher als die Einführung in den Marxismus, die ich mir kürzlich bei der Bundeszentrale für Politische Bildung bestellt hatte. Trotzdem konnte ich den Brief nicht aus der Hand legen. Sein Anblick bannte mich. So eine schöne Handschrift hatte ich noch nie gesehen. Kleine runde Buchstaben, die in ihrer Unverbundenheit frei, in ihrer perlenden Abfolge geordnet schienen.
»Wer war nochmal C.?«, fragte ich meinen Vater.
»Mein Cousin aus Dresden, der Sohn von Onkel Martin.«
Ich will nicht behaupten, dass mich die Schrift des Sohnesmit dem Bild des Vaters versöhnte. Aber sie wies in die richtige Richtung: nach Osten. Zum Licht, zum Dunst. In die DDR, ins Kaiserreich.
Ein schöner Schlusssatz wäre das gewesen, poetisch, geheimnisvoll über sich hinausweisend und so weiter. Aber leider kann das Kapitel hier noch nicht enden. Es muss, weil sein Gegenstand zwiespältig ist, selbst gespalten sein. Denn da gab es ja auch noch die andere, die unschöne Seite der Graphologie. Sie interessierte Martin so wenig wie Friedrich ihr zarter Hintergrund. Diese Seite zeigte sich immer dann, wenn die Handschrift nicht Anlass zur Versenkung in das Rätsel von Eigenart und Vielfalt gab, sondern zur Enthüllung einer verdächtigen Seele. Wenn die Graphologie ins Leben eingriff.
Von allen Handschriftenanalysen, die er seinen Kunden zustellte, behielt Klages einen Durchschlag bei sich. Viele von ihnen liegen heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Doch der Name ihres Aufenthaltsortes täuscht. Graphologische Gutachten sind eine zutiefst unliterarische Textgattung. Sie sind Dokumente eines muffigen Gemauschels, Existenzbeweise einer kleinmütigen Macht, die sich nicht zeigen will, Zeugnisse einer feigen Anmaßung. Ein Mensch charakterisiert einen anderen, oft mit gravierenden Folgen, allein auf Grundlage einiger allgemeiner Informationen und seines Schriftbildes. Und zwar gegenüber einem Dritten, ohne Wissen und Einverständnis dessen, den es betrifft. Wie sehr auch immer mich die Eleganz seiner Theorie und die Subtilität seiner Wahrnehmung beeindruckt haben mochten, Klages’ graphologische Praxis stieß mich ab. In der Vertraulichkeit des Archivs zeigte sich dieser klare Denker plötzlich von seinerdunklen Seite. Ein verbissener Paranoiker, der sich für den Mittelpunkt des Abendlandes hielt, der ständig vor Maske, falschem Schein, Sexus und Hysterie warnte, sich aber zugleich taktisch auf die Bedürfnisse der zahlenden Kundschaft einstellte, der kaum jemandem sein Glück gönnte und vor oberlehrerhafter Besserwisserei nur so strotzte, der vollkommen humorlos war, voller Ressentiment und immer, selbst wenn er wohlwollend urteilte, unerträglich herablassend. Ein komplett gestörter Typ. Aber ganz Deutschland fragte ihn um Rat.
Auch Clara Stern tat das, Ehefrau des Psychologen William Stern und ihrerseits Wissenschaftlerin. Die Sterns hatten Ärger mit ihrem Schwiegersohn. Obwohl sie selbst alle
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