Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Mittel besessen hätten, ihm psychopathische Tendenzen zu attestieren, wollten sie das Urteil lieber als Schicksalsspruch hören. Das Gutachten, das Klages über die Handschrift des Schwiegersohns anfertigte, befriedigte ihre Wünsche vollkommen. Als Frau Stern in ihrem Dankesbrief um einen Fingerzeig auf Art und Herkunft der angedeuteten Störung bat, antwortete er mit einem Bildvergleich. Die begutachtete Schrift wirke auf ihn wie der Anblick eines Ghettos. Überlassen Sie sich, schrieb er der Jüdin Stern, gefühlsmässig dem Worte ›Ghettoschrift‹, so erkennen Sie auch, wie vorzüglich alles dazu passt, was Sie über den Mangel an Sauberkeit und Ordnung des Schrifturhebers, über seine Unempfindlichkeit gegen Wohnung, Kleidung usw. anführen! Man muss davon ausgehen, dass Klages meinte, Frau Stern mit dieser Vertraulichkeit zu schmeicheln. Und dass er sich fragte, warum sie sich nie wieder bei ihm meldete.
Friedrich ließ die graphologischen Gutachten, die ihm geheimes Wissen über Menschen aus seiner Umgebung verschaffensollten, nicht von Klages anfertigen. Möglich, dass es Heinz Engelke war, ein Klagesschüler aus Bremen. Allerdings kam 1965 in jeder größeren deutschen Stadt auf etwa 100 000 Einwohner ein Graphologe. Es könnte also ebenso gut ein Kollege Engelkes gewesen sein, der für Friedrich die Handschrift einer jungen Frau deutete, der er nur ein einziges Mal persönlich begegnet war. Friedrich handelte nicht im Auftrag der Begutachteten und auch nicht auf Bitten ihres Verlobten, dessen Onkel er war. Vielmehr hatte er umgekehrt den Neffen gebeten, ihm ein oder zwei Briefe von ihrer Hand zu überlassen. Als das graphologische Gutachten dann vorlag, schickte er es nicht etwa dem Neffen. Er schrieb ihm einen Brief, der so begann: Die Erinnerung in Deinem letzten Brief soll nun der Anlaß sein, Dir in Fortsetzung unseres damaligen Gesprächs etwas über die graphologische Diagnose, die ich aufstellen ließ, mitzuteilen. Der gesamte Text umfaßt 4 Schreibmaschinenseiten, die wohlverschlossen in meinem Schreibtisch deponiert sind. Ich sagte Dir damals schon, daß ich es nicht für richtig halte, Dir den ganzen Wortlaut mitzuteilen. (Später vielleicht mal!) Das was ich Dir damals sagte, wurde weitgehendst bestätigt. Friedrich fasste nun die Tendenz des Gutachtens zusammen, ergänzt um einige wörtliche Zitate, die das Gesagte untermauern sollten. Der Brief mündete in eine Empfehlung: Also, laßt Euch Zeit u. laßt Euch durch die Gestaltung der Euch vom Leben in der Gegenwart gestellten Aufgaben reifen u. prüfen. In 3 Jahren kann sich schon vieles klarer kristallisiert haben. Nimm das, was ich Dir schrieb, nicht zu tragisch, sondern nur als Grundlage Deiner eigenen Erkenntnis über das von Dir in Selbstverantwortung zu Gestaltende! Die Einschätzung, die das Gutachten bestätigte, betraf den angeblich schwankenden Charakter und das Geltungsbedürfnis der jungen Frau sowie ihre Tendenz, sich in eine Scheinwelt aus schwärmerischenIllusionen zu verstricken. Vielleicht altersbedingt. Vielleicht aber auch wesensbedingt. Das eben gelte es abzuwarten. Bis dahin solle sich der Neffe in Geduld üben und den eigenen Leichtsinn bekämpfen. Sein Charakter sei nämlich kaum gefestigter als der seiner Freundin, wie Friedrich dem Neffen im Postskriptum mitteilt: Für Dich wichtig aus Deiner Schrift: Selbsterkenntnis treiben zur Erkenntnis des eigenen Maßstabs, weil die Welt der Gefühlsempfindung oft weit über den Maßstab des natürlichen echten Wertes hinausgeht (Überheblichkeit, Illusion, Maßlosigkeit, Scheinwelt).
Man versteht, warum Friedrich die Graphologie so schätzte. Sie ist ein Schatz für Arme. Alle seine Brüder waren auf ihre Weise vermögend. Und auch seine Söhne waren Neffen. Interessierte sich einer von ihnen für die Wunder der angewandten Physik? Ab ins Oberhaus zu Onkel Heinz. Für Astronomie oder die Geschichte des Schiffbaus? Schreib doch mal Onkel Martin. Die Leos im 17. Jahrhundert? Da musst du Onkel Jan anrufen, der treibt Familienforschung. Und Onkel Fiet? Was konnten Martins oder Jans Kinder bei ihm finden?
Es gab eine Zeit, da hätte er in der Hauptstadt einiges bewirken können. Das hätte ihn sicher interessant gemacht. Aber als ihm diese Macht genommen worden war, was blieb ihm da noch außer den paar Brocken Biologie, die er im Wald und auf den Lehrgängen der SS zusammengekratzt hatte? Nichts jedenfalls, was für junge Menschen spannend gewesen wäre. Ohne die Nähe zur
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