Flut
umgebracht wurde?
Noch nie?
Also, gestorben sind natürlich schon viele, aber so richtigermordet noch niemand! Ist ziemlich friedlich hier. Es gibt so gut wie keine Gewalt.
Das glaube ich nicht, dass noch nie jemand getötet wurde.
Marcelo antwortet nicht.
Ich hab gehört, dass mein Großvater hier gestorben ist.
Wie hieß er denn?
Sie nannten ihn den Gaúcho.
Plötzlich herrscht Schweigen. Er beschließt nachzuhaken.
Soweit ich gehört habe, wurde er hier ermordet.
Hier? Wirklich? Das glaube ich nicht.
Mein Vater hat es mir erzählt.
Gaúcho, ja? Gaúchos gibt’s hier viele.
Der Junge mit den hellen Augen lächelt unauffällig und blickt weiter aufs Meer.
Mein Großvater hat viel nach Zackenbarschen getaucht. Habt ihr noch nie etwas von ihm gehört?
Marcelo hebt die Augenbrauen und sieht sich theatralisch zu beiden Seiten um. Er kauert oben auf der Treppe wie ein Vogel auf der Stange, mit einem Arm die Knie umschlungen, in der anderen Hand die Zigarette. Dann blickt auch er aufs Meer hinaus und schweigt. Das Gespräch verebbt, alle wirken auf einmal übermäßig konzentriert, egal, was sie gerade tun. Ein Touristenpaar paddelt mit Kajaks zwischen den Booten durch, der Mann hält immer wieder kurz inne und wartet auf seine Frau. Eine Wolke verdeckt die Sonne. Der Himmel zieht zu.
Bist du aus Porto Alegre?, bricht Marcelo das Schweigen.
Ja.
Porto Alegre ist ein gefährliches Pflaster.
Allerdings.
Ich habe zwei Jahre dort gelebt. Ist schon länger her. Ich kenn das.
Ach? Was haben Sie da gemacht?
Dies und das. Kennst du die Bar João?
In der Avenida Osvaldo?
Genau. Verrückter Laden. Das war praktisch mein Zuhause.
Die Bar existiert nicht mehr. Das Haus wurde abgerissen.
Echt? Na, so was. Ich hab da immer Cocktails getrunken, Jaguarmilch zum Beispiel. Die hatten so einen speziellen Hausschnaps. Ich erinnere mich an einen Typen, der das Zeug getrunken hat. Da liefen nur Verrückte rum. Teilweise auch ziemlich üble Leute.
Ich hab auch in Porto Alegre gewohnt, schaltet sich jetzt der offensichtlich Älteste von ihnen ein. Ein hagerer, runzliger Kerl mit riesigen Ohren, aus denen weiße Haarbüschel wachsen. Zehn Jahre lang. Damals hab ich in einer Bar gearbeitet. Gab’s zu deiner Zeit noch die Straßenbahn? Nee, ich glaub, dafür bist du zu jung. 1971 war Schluss damit, da haben sie die Dinger eingestellt. Danach haben sie die Wagen versteigert, und der Besitzer der Bar, in der ich gearbeitet habe, hat einen gekauft. Er hat die Vorderseite mit dem Schweißbrenner aufgerissen und den Wagen vor die Bar gestellt. Eine kleine Bar, hat genau reingepasst. Kanntest du den Laden?
Nein. Ich schätze, da war ich noch ein Kind.
Der Alte erzählt nicht weiter. Stattdessen herrscht wieder Schweigen. Der Bootsbesitzer holt immer noch das Netz ein.
Jeremias!
Der Fischer hebt den Kopf.
Hast du schon mal von einem Typen gehört, der hier in den Sechzigern gewohnt hat und den sie den Gaúcho nannten?
Gaúcho?
Er war mein Großvater. Ich versuche, jemanden zu finden, der ihn kannte.
War wahrscheinlich nicht meine Zeit, sagt Jeremias, ohne hochzusehen. Da musst du dich bei den Älteren umhören. Hier haben schon viele Leute gewohnt. Die meisten vergisst man wieder.
Marcelo wirft den Zigarettenstummel ins Wasser und steht auf.
Ich hau ab.
Als das Netz ein paar Minuten später ganz eingerollt ist, gehen alle an Bord. Der Motor hustet grauen Qualm aus. Das Boot fährt mit gurgelnder Schraube in tieferes Gewässer und geht dort vor Anker. Es riecht nach Treibstoff.
Er geht ins Haus. Beta liegt genau wie am Tag zuvor auf ihrer Kuscheldecke, oft weiß er nicht, ob sie wach ist oder schläft. Sie atmet ganz langsam und geht nur nach beharrlichem Zureden mit ihm vor die Tür. Damit sie wenigstens zum Essen aufsteht, stellt er ihr Wasser und Futter in die Abstellkammer.
Er holt seine Brieftasche aus einer Schublade im Küchenschrank. Zwischen Papieren und Bankkarten steckt ein aktuelles Passfoto von ihm. Er hat es immer dabei, um sich an sein eigenes Gesicht zu erinnern, zumal die Fotos im Führerschein und Personalausweis entweder zu klein oder zu alt sind. Er zieht das Foto aus der Hülle, geht ins Schlafzimmer und holt ein Fotoalbum aus dem Rucksack, eine Art Katalog der Gesichter, die ihm am meisten bedeuten. Darunter ist auch das Bild von seinem Großvater, das ihm sein Vater gegeben hat. Er vergleicht es mit seinem Passfoto, geht dann ins Badezimmer und hält es neben den Spiegel. Abwechselnd
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