Flutgrab
Es war im Wasser unter den Nachttisch gefallen.
»Fackel.« Ohne ein weiteres Wort bekam er sie von Marek gereicht. Mit der Flamme voraus angelte Rungholt unter dem Tischchen herum, bis er das Ding erwischt hatte.
Eine Kugel. Nicht viel größer als ein Augapfel, jedoch ungewöhnlich schwer und rau. Rungholt wog sie in der Hand. Sie war nicht aus Holz, obwohl sie im Licht der Fackel danach aussah.
»Gold. Sie ist aus Gold.«
»Der Klumpen? Dann ist er ein Vermögen wert, oder? Ist er doch?«
»Nicht ganz zehn Quent schwer, würde ich schätzen.« Rungholt wog die Kugel fachmännisch, indem er sie sanft hochwarf. Er wischte den Dreck gänzlich beiseite. Ihre raue Oberfläche war nicht durchs Schmieden entstanden oder weil sie – wozu auch immer – oft benutzt worden war. Nein, das Raue war etwas anderes.
»Runen«, sagte er dann trocken. »Das sehe ich auch ohne Brille.«
»Winzige Zeichen, ja«, stellte Marek fest und beugte sich darüber. »Eine gute Arbeit. Sehr kunstfertig, würd ich meinen. Was ist das? Schmuck?«
»Zu schwer. Da ist auch keine Öse, um es als Halskette oder Ohrring zu tragen.« Rungholt hielt sich die Kugel nah vor die Augen, schien jede Ritze mit seinem Blick abzufahren. »Selbst die Spiralen sind zu erkennen. Es sind die gleichen eckigen Runen … Das passt zum Schädel.«
»Den würde ich gern mal sehen, hm?«
Rungholt antwortete nicht, rollte abschätzend die Kugel ein paar Mal in der Hand hin und her und berichtigte sich dann mit nachdenklichem Blick. Seine Augen spiegelten sich im Glanz des Goldes. »Nein. Nicht passt zum Schädel , passt in den Schädel.«
19
Der Schädel blickte im Licht von fünf Kerzen und zweier Tranlampen aus dunklen Höhlen seine Betrachter an. Aber er schwieg. Er sagte weder Rungholt noch Marek etwas, der ihn in der Hand hielt und seit etlichen Atemzügen fassungslos musterte. Über ihnen in der Nacht donnerte das Gewitter.
»Und ich dachte, die Blutbrühe wäre widerlich.«
»Kotz nicht in den Kopf«, meinte Rungholt. »Hilf mir lieber.«
Marek legte den Schädel auf ein Bierfass, das er in den obersten Dachboden geschleppt hatte, nachdem sie unter Alheyds zornigen Blicken sich das Blut vom Leib gewaschen und die besudelten Kleider gegen neue getauscht hatten. Er trat zu Rungholt. Seit geraumer Zeit war Mareks Freund damit beschäftigt, Namen, Orte und Überlegungen auf kleine Pergamente zu schreiben und sie an Fäden zu hängen, die er kreuz und quer durch den Dachboden gespannt hatte.
»Ist dieses vermaledeite Regenwasser auch in deine Scrivekamere gelaufen? Oder warum muss ich hier im Gestank stehen?«
Auf dem Dachboden roch es tatsächlich ranzig. Der Geruch von feuchter Baumwolle vermischte sich mit den Ausdünstungen des sottenden Kamins und dem Rauch. Zudem war das Wasser in den Ritzen zwischen den Brettern versickert und begann die Kornreste zu verderben, die vor Jahren hineingerutscht waren.
»Hier ist es ruhiger. Hier stören uns die Weiber nicht.« Rungholt warf Marek ein Knäuel von Alheyds gutem Garn zu. »Spann es von ›Peterchen‹ zu ›Kugel‹ und eins von ›Kugel‹ zu ›Schädel‹.«
»Ist das Seide?« Prüfend zupfte Marek an dem Faden, doch Rungholt ignorierte ihn, riss gierig ein weiteres Pergament in Stücke. Auf die Schnelle hatte er nichts anderes finden können, Alheyd würde ihm den Kopf abreißen. Auf einen Fetzen schrieb er »d’ Alighieri« und auf einen weiteren »Peterchen«, schnappte sich die Nägel und den Hammer, den er mit Contz fürs Dach gebraucht hatte, und schlug die beiden Namen an die Sparren.
Als Marek eine Verbindung von »Peterchen« zum Blatt mit »Kugel« ziehen wollte, stieß er neben einem aufgerissenen Sack Hafer auf zwei verendete Ratten. Sie mussten vor Wochen gestorben sein, ihre Bäuche waren aufgebläht. Rungholt wies Marek an, die Felle unter dem Dachloch hochzuklappen und die Ratten nach draußen auf die Schindeln zu werfen. Die Raben freuten sich über jeden Kadaver. »Eigentlich sollte ich die Contz statt der Morgensuppe hinstellen«, flachste er und half Marek mit den Fellen.
Sie hatten beide nicht mit dem Sturm gerechnet. Zwar hörten sie, wie er unablässig durch die Schindeln pfiff und am Haus zerrte, aber als sie die Felle lüpften, riss der Wind sie ihnen aus der Hand. Er peitschte die Kuhhäute gegen die Schindeln, schlug sie ihnen ins Gesicht. Der Wind drückte ins Haus, und Rungholts wohlaufgesteckte Fetzen drohten von der Seide gerissen zu werden, all die
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