Flutgrab
ließ Rungholt den Fleischhauer los und keuchte: »Zieht mich hoch. Ich muss zum Bürgermeister. Diese gottlosen Handwerker! Dreckiges Pack.«
Er war kaum drei Stufen die Treppe hinaufgestolpert, als er Dartzows Gesicht über dem Geländer sah. Besorgt und mit einem Anflug von Panik blickte der Bürgermeister die Treppe hinab und schrie hinter sich, man möge mehr Riddere holen und diesen Aufstand unterbinden.
»Wartet ab«, rief Rungholt hinauf, »bis es ein richtiger Aufstand wird. Noch haben sie keine Knüppel, Äxte und Beile dabei. Das hier ist nur ein Vorgeschmack.« Schwitzend und nach Luft ringend erreichte Rungholt die obere Etage. »Die Menschen brauchen was zu fressen.«
»Ihr seid doch nicht gekommen, um mir gute Ratschläge zu erteilen. Habt Ihr es Euch überlegt? Wollt Ihr doch nach den Kindern suchen?«
»Nein.« Rungholt warf einen Blick zurück auf die Menge. Die Fäuste drohend erhoben, brüllten die Handwerker wüste Beschimpfungen. »Eure Kinder … Die kreuzen nur … Na ja … sagen wir, sie kreuzen meinen Weg.«
»Euren Weg? Was soll das heißen?«
»Das ist zu kompliziert, um es hier auf der Treppe zu erklären.« Ohne auf Dartzow zu warten, schritt Rungholt in den Laubengang. »Aber ich glaube, ich weiß, wo die Kinder festgehalten werden.«
Der Blick des Bürgermeisters hätte nicht überraschter sein können.
Zwei Riddere, ihre Lederwämser bloß halb verschnürt und mit Dünnbier bekleckert, kamen ihnen entgegengeeilt und grüßten knapp, bevor sie zur Treppe abbogen. Immer wieder streckten besorgte Schreiber ihre Köpfe aus den Amtsstuben. Die Rufe der Handwerker drangen bis hier herauf. Wütend klangen sie und ungeduldig. Dartzow forderte Rungholt auf ihm zu folgen. Durch die dicken Bleiglasfenster des Laubengangs konnte Rungholt einen verzerrten Blick auf den Markt erhaschen. Immer noch strömten Handwerker auf das Rathaus zu, passierten die Stadtwaage und eilten an den Granitsäulen vorbei, zwischen denen die Goldschmiede ihre Stände hatten. Seit Wochen waren ihre Buden verwaist. Die aufgeregten Worte der Eintreffenden vermischten sich mit dem Gebrüll aus dem Vestibül zu einem beängstigenden Schlachtruf.
Dartzow muss sich beeilen, wenn er einen blutigen Aufstand verhindern will. Und wenn ich Recht habe, dachte Rungholt grimmig, wird das Schicksal der Kinder der Funke sein, der das Feuer da draußen entfacht.
Der Geruch von einem längst verspeisten Brathähnchen hing in der Luft, und für einen kurzen Moment befürchtete Rungholt, Dartzow werde ihn zu Kerkring bringen. Als sie sich nämlich der Schreibkammer näherten, die Rungholt wohlvertraut war, sah er ihn hinter seinem mächtigen, rötlich braunen Schreibtisch hocken. Einst war es Winfrieds Kammer gewesen. Gott hab ihn selig – oder auch nicht, schoss es Rungholt durch den Kopf. Schließlich war es sein greiser Freund Winfried der Kahle gewesen, der ihm, dem Bluthund, nachgeschnüffelt und auch noch das verdammte Buch über seine Sünden angelegt hatte, das ihn irgendwann vermutlich auf den Köpfelberg bringen würde.
Hoch konzentriert ging Kerkring gerade ein Pergament durch und achtete gar nicht auf den Lärm ringsum. Auf seiner Schecke lief die Soße seines Eichhörnchenspießches hinab. Er hatte sich bekleckert, weil er zu gierig zugebissen hatte. Rungholt kannte die Vorliebe des Rychtevoghede für Gebratenes. Selbst in dieser Hungerzeit gelang es dem Dummbatz noch, einen Leckerbissen aufzutreiben, zürnte Rungholt und meinte in seinem eigenen Atem Hildes Erbsensuppe zu schmecken. Bald würde seine Haut die Farbe von Erbsenmus annehmen.
Zum Glück schritt Dartzow an Kerkrings Kammer vorüber und steuerte auf eine andere Tür zu. Der Bürgermeister wollte gerade den Knauf greifen, als sie hektisch aufgerissen wurde. Rungholt prallte zurück.
»Was zum …«, entfuhr es Dartzow. Ärgerlich starrte er auf sein Gegenüber.
»Wir müssen zum Geheimgang. Dartzow! Wir müssen hier, so schnell es geht, raus. Die werden uns aufknüpfen.« Die Stimme des Fiskals überschlug sich. Der schlaksige Mann hielt eine gewöhnliche Gabel wie ein Messer in der Hand. In seinem Kragen steckte ein mit Ei bekleckertes Taschentuch.
Auf Rungholts Stirn zeichnete sich eine Zornesfalte ab. Selbst der Fiskal aß keine Erbsen. Ob Alheyd ihn ärgern wollte?
»Seid nicht albern!« Dartzow drückte den Mann zurück in den Raum. »Der Rat Lübecks verkriecht sich nicht wie eine Horde feiger Waschweiber. Legt die Gabel weg und lasst Euch
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