Fly Me To The Moon - In seinem Bann 6
Reed war, kostete mich der Schritt über die Türschwelle am Abend von Ians Geburtstag fast ebenso viel Überwindung wie vor einem halben Jahr, als ich Ians erster Einladung gefolgt war. Doch dann fasste ich mir ein Herz und schritt durch die Lobby geradewegs auf Wilfried Suter zu, den ebenso charmanten wie diskreten Concierge des Grand Reed.
»Frau Dr. Lauenstein, wie schön Sie zu sehen«, begrüßte mich der alte Herr im schwarzen Frack lächelnd und trat hinter dem Rezeptionstresen hervor, um mich formvollendet und mit einem angedeuteten Bückling willkommen zu heißen.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Doktor? Mr. Reed ist leider noch nicht zurück.«
»Ich weiß«, entgegnete ich einsilbig und wusste plötzlich nicht mehr, wie ich meine Frage formulieren sollte.
»Aber wie Sie wissen, erwarten wir ihn noch heute Abend zurück. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten oder möchten Sie in der Präsidentensuite auf ihn warten?« bot mir Wilfried Suter an.
Ich atmete tief durch und schüttelte den Kopf.
»Könnten Sie mir vielleicht sagen, welche Suite Mr. Reed bevorzugte, wenn er –.« Ich stockte. »Wenn er in anderer Begleitung hier gewesen ist?«
In diesem Moment erkannte ich, was einen guten Concierge ausmachte. Wie ein Butler in alten englischen Filmen verzog Wilfried Suter keine Miene, als er verständig nickte.
»In früheren Zeiten«, betonte er, »bevorzugte Mr. Reed bisweilen die Regency Suite .«
»Wäre die Regency Suite heute Nacht –.«
»Sie steht Ihnen selbstverständlich zur Verfügung«, erriet der alte Herr meine Frage und trat hinter den Rezeptionstresen, um mir eine entsprechende Chipkarte auszuhändigen.
»Genau gegenüber der Präsidentensuite«, ließ mich Wilfried Suter mit einem Augenzwinkern wissen. »Ich werde Mr. Reed entsprechend informieren, wenn er eintrifft. Haben Sie sonst noch irgendwelche Wünsche, Frau Doktor?«
»Ja, bitte lassen Sie uns eine Flasche von Mr. Reeds Lieblingschampagner aufs Zimmer bringen.«
»Selbstverständlich.«
Im Aufzug fragte ich mich, ob das Ganze wirklich eine gute Idee gewesen war. War ich nicht gerade im Begriff, mich freiwillig auf das Niveau von Ians Gespielinnen, seinen Huren zu begeben? Ein Niveau, das er für mich nie vorgesehen hatte? War ich nicht dabei, mich aus freien Stücken und eigenem Antrieb auf eine Weise zu erniedrigen, wie es Ian nie von mir verlangt hatte?
Nein, gerade weil Ian mich nie so gesehen hatte, konnte ich es riskieren, dieses Spiel zu spielen und ihm dieses Geschenk zu machen.
Ich hatte Ians Vertrauen eingefordert und er hatte es mir geschenkt, ohne Umschweife, ohne Absicherung, ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen und nun war ich an der Reihe, ihm zu vertrauen. Ich hatte mir gewünscht alle Facetten des Mannes kennenzulernen, den ich liebte, hatte es gar zur Bedingung für unsere Beziehung gemacht und nun war es an der Zeit, auch den Teil seiner Persönlichkeit kennenzulernen, der mir am fremdesten war, vor dem ich am meisten zurückscheute. Auch er wünschte sich mein tiefstes Urvertrauen und wie sollte ich ihm das gewähren, wenn ich mich dem verschloss und verweigerte, was ihm die größte Lust bereitete? Wenn ich nicht einmal kannte, was ich ihm verweigerte? Nach und nach hatte er mir ganz behutsam Einblicke in diese Welt der schmerzhaften Lust gewährt und ich hatte mich darauf eingelassen und es hatte mir trotz allem Befremdens gefallen. Aber das Video, das mir Isabelle zugespielt hatte und das mich so sehr schockiert hatte, hatte mir vor Augen geführt, wie sehr er sich bei mir nach wie vor zurückhielt.
Heute war es an mir, Ian zu zeigen, wie sehr ich ihm vertraute und ich fühlte mich bereit dazu, ohne Bedingungen, ohne Beschränkungen.
Mit vor Neugier klopfendem Herzen schob ich die Chipkarte in den Türschlitz und trat über die Schwelle zu einem Raum, der zu Ians anderem Leben gehörte, zur dunklen, lasterhaften Seite seiner Seele.
Auf den ersten Blick unterschied sich die Regency Suite kaum von der Präsidentensuite auf der anderen Seite des Korridors. Sie schien nur unwesentlich kleiner, Farbwahl und Interieur waren fast identisch, nur einige Luxusdetails fehlten.
Doch dann trat ich durch die große Schiebetür vom Wohnzimmer zum Schlafbereich und hier gab es einige markante Unterschiede. Anders als in der Präsidentensuite stand das Kingsize-Bett nicht an der Wand, sondern fast mittig im Zimmer. Zur Strukturierung des Raumes diente ein aus zwei Teilen bestehender,
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