Föhnfieber: Kriminalroman (German Edition)
gerechnet.
Da war es
wieder, das mulmige Gefühl zu Beginn ihres Aufenthaltes. Heute waren es nicht die
Geister verfallender Gemäuer, keine Ratten, die aus der Kanalisation oder aus irgendwelchen
Ritzen und Spalten äugten oder über die Pflasterung in ein nächstes dunkles Loch
huschten, keine Schattengestalten, die sich in düsteren Winkeln und schwarzen Kellerlöchern
verstecken, verkriechen, verdrücken, verschwinden, auflösen konnten. Es war schlimmer.
Eine Bedrohung hing in der Luft.
Sie ging
nicht mehr die düsteren Treppen oder die gefährliche Stiege hinunter in die Untere
Stadt. Dort fühlte sie das Unheimliche direkt hinter sich, greifbar nah.
Josys Notebook
Ich habe
es mir überlegt und mich auf den Weg gemacht. Es ging nicht um ein Ja oder Nein,
sondern darum, dass ich mich bewegen kann. Ich bin erst 15, also fahre ich Rad wie
alle Gleichaltrigen. Jetzt gibt es ein Ziel irgendwo außerhalb meines Schulwegs,
das Ziel liegt im Unbekannten, ich schaue einem Menschen zu.
Seit Wilmas
Aufforderung habe ich ihn im Auge behalten: Ich war rechtzeitig in der Schule, wartete
bei einem der Radständer, von wo aus ich alle ankommenden Radler im Auge hatte.
Ich war eine der Letzten, die noch draußen waren, als er dann eine Minute vor acht
um die Ecke gesaust kam, allein. Ich tat, als wäre ich auch erst eben eingetroffen,
grüßte beiläufig und spurtete über den Platz, die Stufen hoch ins Schulhaus. Ich
beobachtete ihn so gut es ging in den Pausen, in der Mensa. Bei Unterrichtsschluss
war er meistens schon weg, das lag am Stundenplan.
Da sah ich
schon die Gemeinsamkeit. Er war kein Einzelgänger, doch er war meistens allein.
Er lachte nicht.
Dann wartete
ich einmal bei den Schließfächern und hatte Glück, er holte seine Sporttasche, gelb.
Ich mag gelb. In guter Entfernung verfolgte ich ihn auf dem Rad. Das Tempo war grässlich.
Irgendwie hielt ich mit. Zunächst meinte ich, er fahre zu seinem vorherigen Zuhause
in die Hangsiedlung, doch er zweigte ab durch den Bremgartenwald, nahm den Radweg
zum schmalen See. Betrieb er Wassersport, Rudern oder Kanufahren? Ein Wegweiser
zeigte den Kanu Club an, er ratterte den Weg vom Autoparkplatz zum Clubhaus hinunter.
Da sah ich dann auch die Clubfahne, dasselbe Signet, das er auf seiner Regenjacke
trägt, jetzt erkenne ich es. Natürlich folgte ich ihm nicht weiter, doch ich bin
sehr zufrieden mit mir.
Das habe
ich dann Wilma erzählt, sie muss ja einverstanden sein, dass ich mich frei bewege.
Wilma hat
sich bei Freundinnen erkundigt, es sei ein gut geführter Sportclub, die Jugendlichen
werden seriös betreut, bringen Medaillen nach Hause, von Drogen ist nichts bekannt.
Von der Tradition her sei es mit Rudern nicht zu vergleichen. Die Sportart sei auch
viel gröber, mehr im Wasser und so. Doch sie war sofort sehr angetan von der Idee,
dass ich Kanu fahren lerne. Nicht nur, weil der junge Berry diesen Sport mit Erfolg
betreibe. Ich fände dort vielleicht Anschluss, was auch immer sie darunter versteht.
Sie hätte es mir gleich verleiden können, doch ich habe mich ja auch umgehört, es
scheint kein geschleckter Club zu sein, und Kanufahren, besonders dann die Abfahrt,
erfordere Mut. Die Rennen fänden weit weg statt, man gehe zelten, meistens im Sumpf.
Endlich draußen.
Ich lerne paddeln, obwohl ich alles
andere als eine Wasserratte bin. Schon der Anfang war fürchterlich. Du kniest in
diesen kleinen, schmalen Booten! Das macht die Sache nicht stabiler. Dazu hast du
die Deckplane des Boots um deinen Bauch festgebunden, so fest, dass, wenn du kippst,
einzig dein Kopf und Oberkörper unter Wasser geraten, doch der Hohlraum des Boots
bleibt trocken, und die ganze Kunst besteht darin, mit dem Schwung des Kippens auf
der anderen Seite gleich wieder hoch zu schnellen. Wenn das nicht lustig ist. Als
Anfänger gelingt dir der Schwung nicht, du bleibst unten und hältst die Luft an,
bis dein Coach dich mit einem Ruck am Seil, das am Boot befestigt ist, hochgedreht
hat. Da muss man schon sehr motiviert sein, um nach dem dritten Mal den Bettel nicht
hinzuschmeißen.
Also, normalerweise
trage ich lange Hosen, damit man meine streichholzdünnen Beine und die knochigen
Knie nicht sofort sieht. Knie ich im Boot, sind sie verdeckt. Kanufahrer sind vierschrötiger
als ich. Das fällt auf den ersten Blick auf. Einfach quadratischer. Kürzere stämmige
Beine, kürzerer Oberkörper, und der Kopf sitzt fester in den Schultern als bei mir.
Echte Schweizer eben. Was bin ich?
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