Föhnfieber: Kriminalroman (German Edition)
Bei mir fehlen ein paar Hormone. Ich bin in allem
zu dünn geraten.
Ich hatte die gute Idee, mich mit
einem Skizzenbuch und einem weichen Rötel auszurüsten, dass alles nicht ganz so
himmeltraurig grau ausfällt. Das Papier ist wunderbar weich und riecht nach Gummi.
Auf jeden Fall vergesse ich, dass ich herumhänge und spitzle, wenn ich versuche,
eine Stimmung festzuhalten.
Ich kann
mich auf dem Schulplatz unter einen Baum setzen, alles überblickend, doch ich brauche
mit niemandem zu reden, es könnte das Kunstwerk in seiner Entstehung abmurksen.
Das hält jeden auf Distanz. Ich liebe es, Bäume zu zeichnen, vielleicht auch nur
den Stamm, die Rinde, die Adern und das, was von seinen breit ausladenden Wurzeln
über dem Boden zu sehen ist. Sie haben viel zu wenig Raum und müssen unter dem Asphalt
verschwinden. Gut, weiter unten macht es ihnen vielleicht nicht mehr so viel aus,
obwohl dort die Nässe ungleichmäßig hinkommt. Sie müssen sich eben mit dem abfinden,
was da ist. Ich mache es wie diese Linde.
Es war eine
Fehleinschätzung, wenn ich meinte, ihm im Kanu Club näher kommen zu können. Francis
kommt, paddelt, geht, ist freundlich und scheinbar offen und nett zu allen, das
macht sein Lächeln, das aber die Augen nicht erreicht. Allen genügen seine stahlblauen
Augen. Mit keinem redet er auch nur zwei Sätze. Ich mache mir dazu Gedanken. Er
trauert.
Wilma meint,
bei diesen Eltern sei nichts anderes zu erwarten, ein intelligenter Autist eben,
nicht zu Sozialkontakten fähig. Wie ich sie hasse, wenn sie diese Schmalspurpsychologie
bringt. Sie meint, weil sie einmal für das Lehramt studiert habe, könne sie Menschen
einschätzen. Ich denke, Lehrer sollten nur jene werden, die Kinder lieben. Wer Kinder
nicht liebt, liebt auch Hunde und Katzen nicht und umgekehrt, wer Hunde und Katzen
hasst, ist auch ein Menschenverächter.
Ich erkenne
ihn schon an seiner Silhouette, mager mit leicht schlaksigen Bewegungen, breitschultrig,
das kommt vom Kanufahren. Er wäre schön, hätte er nicht diesen viel zu ausgeprägten
Hinterkopf, dieses scharfe Profil mit einer wirklichen Adlernase, diese Beatles-Frisur.
Doch er hat zugegebenermaßen sehr schöne, sehnige Hände, ganz schmale Finger. Jedenfalls
sehe ich das Ganze nicht so wie Wilma. Wenn ich mir ausmale, ich hätte meinen Vater
verloren, und meine Mutter läge so gut wie tot in einem Pflegebett, und dieses Unglück
hätte sich vor noch nicht drei Monaten ereignet, ich weiß nicht, ob ich es schaffte,
zur Schule zu gehen, zum Training zu gehen, mit Menschen zu reden, vorwärts zu gehen,
wie Wilma es richtig findet. Ich denke, ich wäre innerlich tot.
Also tut
er mir richtig leid. Darum auch habe ich ihn jetzt schon zweimal angelächelt, als
er mich direkt ansah, anstatt dass ich so tat, als bemerkte ich ihn nicht. Wenn
er nicht ganz erstarrt wäre, wäre ihm aufgefallen, dass ich zweimal dieselbe Person
bin, jene, die er beim Clubhaus kreuzte, und jene, die im Supermarkt am Gestell
mit den Partysnacks so unglücklich um die Ecke kam, dass sie einem Zusammenstoß
nur knapp ausweichen konnte. Doch da war nichts in seiner Miene, das darauf hingedeutet
hätte, dass er mich überhaupt registrierte. Dieses pseudofreundliche, unpersönliche
Lächeln, und das war’s dann.
Doch dann, ich juble: Er wusste
während all dieser Tage, da ich ihm nachstrich, ganz genau, wer ich bin, sodass
es fast etwas peinlich ist. Heute nach dem Kanutraining trafen wir bei unseren Fahrrädern
aufeinander. Er redete zu mir! »Ich weiß doch, dass du Josy Kalla bist, auch wenn
du so tust, als kenntest du mich nicht. Meine Eltern kannten früher deine Eltern,
vor Jahren. Ich bin auch schon bei dir zu Hause gewesen. Du bist ja schön lang geworden,
wie alt bist du denn?« Dann sagte er: »Ich habe dich nicht hier erwartet, dass du
das darfst! Du wirst sehen, mit Kanu bist du hart im Nehmen. Du hattest schon so
extra grüne Augen, als du klein warst. Im Schulhaus sehe ich dich ab und zu von
weitem.«
»Sie ist
nicht meine Mutter«, unüberlegt rutschte es mir heraus, am liebsten hätte ich mir
die Zunge abgebissen. Er sah mich an, ich war ein Kind. Erst jetzt beim Schreiben
überlege ich, ob er mir sagen wollte, er wisse, dass ich ihn beobachte. Jetzt wird
mir ganz heiß, er denkt, ich schwärme für ihn.
Und genau
das tue ich.
3
Countdown
Heute waren die Kopfschmerzen
wieder da. Heute war er sich wieder sicher, dass sie vom Föhn ausgelöst wurden,
diesem gar nicht immer fassbaren
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