FOOD CRASH
die sich sehr detailreich an ihre frühe Jugend erinnern. Sollte ich in dieser Zeit wesentliche Erziehungsbotschaften erhalten haben, so prägen sie mich entweder über mein Unterbewusstsein oder weil irgendjemand so nett war, sie mir in regelmäßigen Abständen zu wiederholen. Was ich aber noch weiß, als wär’s gestern gewesen, was ich geradezu noch im Ohr habe, ist ein kategorisches Gebot: »Brot wird nicht weggeschmissen!« Für die Generation meiner Eltern, die die Hungerzeiten der 40er Jahre miterlebt hatten, war der Gedanke unerträglich, respektlos mit Lebensmitteln umzugehen. Nicht von ungefähr besaß meine Mutter – und sie besitzt sie bis heute – virtuose Fähigkeiten darin, aus Resten köstliche Aufläufe und Eintöpfe zu machen, so dass gegen Ende der Woche zwar nicht der Genuss am Essen, wohl aber dessen Wiedererkennungswert stieg. Diese Kunst rechnete sich allerdings an einem Tisch mit sieben Kindern, einem hungrigen Ehemann, etlichen Lehrlingen und zusätzlich hereingeschneiten Tischgenossen deutlich besser als in einem Singlehaushalt in Frankfurt/Main, wo mehr als die Hälfte der Einwohner nur für sich selbst den Herd anwerfen.
Dass die Lebens- und Ernährungsstile, die mit einer solchen Entwicklung einhergehen, nicht nur die Esskultur und, wie oben gezeigt, die Essensqualität negativ beeinflussen, sondern auch zu einem gewaltigen Anstieg des Anteils an Nahrungsmitteln führt, die nicht im Kochtopf, sondern in der Mülltonne landen, ist längst keine vage Vermutung mehr. Im Jahr 2009 hat das britische »Waste & Resources Action Programme« eine ebenso umfangreiche wie detaillierte Studie darüber verfasst, wie viel Lebensmittel von schottischen Haushalten weggeworfen werden. Bedenkt man, dass Schotten eigentlich als sparsame Menschen gelten, dann ist das Ergebnis bestürzend: Im Durchschnitt produziert jeder der 2,3 Millionen Haushalte 240 kg Essensmüll pro Jahr. Davon sind 160 kg vermeidbar. Davon, das haben Untersuchungen ergeben, ist ein Sechstel gar nicht erst aus der Verpackung geholt worden, in der es eingekauft wurde. Wären den Schotten ihre Lebensmittel eine sorgfältigere Planung und Nutzung wert, könnte jeder Haushalt 500 Euro im Jahr sparen.
Auch in Wien gibt es ein Institut, das sich intensiv mit diesen Fragen befasst. Dort hat man auch die andere Seite der Ladentheke ins Visier genommen und recherchiert, wie viel schon weggeworfen wird, ehe es überhaupt verkauft wird. Nach einer im Herbst 2010 ausgestrahlten Sendung der ARD , die sich auf die Studien der Wiener Universität für Bodenkultur bezog, addiert sich der Abfall über die verschiedenen Stufen auf unglaubliche 50 % aller Lebensmittel, die auf dem Acker, in der Bäckerei oder anderen Stätten der Lebensmittelverarbeitung erzeugt werden. Zusammengerechnet ergibt das einen Betrag von zwischen 10 und 20 Milliarden Euro jährlich in Deutschland – etwa das Dreifache dessen, was für Ökolebensmittel ausgegeben wird.
In absoluten Zahlen ausgesuchter Beispiele von Lebensmitteln – diese wieder aus Großbritannien – ausgedrückt, heißt das: Allein im Haushaltsmüll der Briten landen pro Tag 4,4 Millionen Äpfel, 2,8 Millionen Tomaten, 1,3 Millionen ungeöffnete Joghurts, 1,2 Millionen Würstchen, 700 000 Tafeln Schokolade sowie 300 000 Fertiggerichte.
Ein weiteres, ganz besonders plastisches Beispiel für diesen Wahnsinn ist die Verschwendung von Brot. Denn eigentlich ist das ein Lebensmittel, das sich – wenigstens stimmt das für gutes Brot – durch lange Haltbarkeit auszeichnet. Im ARD -Bericht wurde erklärt, dass die in Supermärkten eingemieteten Bäckereifilialen vertraglich verpflichtet werden, ihre Brotregale bis zum Abend vollzuhalten. Da das Brot aber nur am Tag der Herstellung verkauft wird, landet der Rest im Müll. Auf Deutschland hochgerechnet sind das ca. 500 000 Tonnen pro Jahr (knapp 10 % der Gesamtproduktion). Für die Produktion der »Müll-Brote« sei eine Fläche von 200 000 Hektar erforderlich. Dass 20 % des Deponieraumes auf diese Weise für Lebensmittel benötigt werden und dort Unmengen des besonders klimaschädlichen CH 4 (Methangas) produziert werden, sei der Vollständigkeit halber angemerkt.
Interessanterweise ist der Anteil dessen, was tatsächlich gegessen wird, an dem, was auf dem Acker erzeugt wurde, ähnlich hoch in ganz armen wie in ganz reichen Ländern. In beiden Fällen beträgt der »Verlust« ungefähr 50 %. In den reichen Ländern wird dieser
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