FOOD CRASH
hatten, wollten ihn in seiner Gänze schließlich in Johannesburg ebenfalls nicht unterzeichnen. Zu kritisch war ihnen der Bericht mit dem Potenzial der Gentechnik und Agrarchemie, aber auch des Welthandels für die Lösung der Welternährungsprobleme umgegangen.
Es ist wichtig, den Prozess und die Stellung der an seinem Zustandekommen Beteiligten so ausführlich darzustellen, weil durch die Breite der involvierten Organisationen und der beteiligten Autoren deutlich wird, dass es sich hier nicht um ein Gefälligkeitsgutachten für die Vertreter einer Denkrichtung handelt. Außerdem hilft diese Information, die herablassende Kritik der Agrarindustrie einzuschätzen, die den Weltagrarbericht als das unwissenschaftliche Machwerk verblendeter und fortschrittsfeindlicher Öko-Ideologen abzuqualifizieren versucht.
Eine zentrale Frage steht über allen Fragen, die den Autoren vorgelegt wurden. Sie lautet:
»Wie können wir durch die Schaffung, Verbreitung und Nutzung von landwirtschaftlichem Wissen, Forschung und Technologie Hunger und Armut verringern, ländliche Existenzen verbessern und eine gerechte, ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Entwicklung befördern?«
[112]
Dass, wie Benny Haerlin erzählt, alleine um diese Frage
fast ein halbes Jahr
gerungen wurde, verwundert nicht. Denn in ihr steckt sowohl das Ziel, das es zu erreichen gilt, als auch der zentrale Weg: Wissen, Wissenschaft und Erfahrung. Dass Wissenschaft, also die Frucht der Expertenarbeit, auf eine Stufe mit dem gestellt wird, was die Menschen und ihre Gemeinschaften an Wissen und Erfahrung besitzen und ausbauen, bildet die besondere Qualität des IAASTD -Prozesses. Es ist der Schlüssel für eine Entwicklung, die nicht aufoktroyiert ist, sondern in der Verantwortung derjenigen liegt, um deren Lebensumstände und Lebensgrundlagen es geht.
So wie die Fragen sich in einer zentralen Formulierung zusammenfassen lassen, so findet auch das Ergebnis sein Kondensat in einem kurzen Satz
: »Business as usual is not an option
« – Weitermachen wie bisher ist keine Option! Diese Erkenntnis ergibt sich aus einer Analyse, wie sie auch im zweiten und dritten Kapitel dieses Buches vorgenommen wurde: Nicht die Produktivität der Fläche ist der entscheidende Faktor für die Unterernährung einer Milliarde Erdenbürger, sondern soziale und wirtschaftliche Missstände, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und der Lebensstil eines Teiles der Weltbevölkerung, der für sich einen unverhältnismäßig hohen Anteil an den Ressourcen dieser Erde in Anspruch nimmt. Und auch der Weltagrarbericht kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Lösung nicht in der kapitalintensiven Hochtechnologie, dem Einsatz von Gentechnik, Mineraldünger und Agrarchemie liegt – also in der Intensivierung des
usual business.
Vielmehr müsse in die Eigenkräfte einer ökologischen und kleinbäuerlichen, diversifizierten Landwirtschaft investiert werden. Dazu gehört die Herstellung von Rahmenbedingungen einer funktionierenden Infrastruktur, Rechtssicherheit vor allem in Bodenfragen und die Verbesserung des Marktzuganges.
Einen besonderen Schwerpunkt setzt der Bericht auf Bildung, Forschung und Wissenstransfer. Hier sieht er die größten Defizite und damit auch das wirkungsstärkste Potenzial. Die Autoren weisen aber darauf hin, dass dazu die Inwertsetzung von bäuerlichem Wissen und den Erfahrungen der ländlichen Gemeinschaft unabdingbar gehört. An vielen Stellen betonen sie, wie wichtig es ist, die Position der Frauen zu stärken, die in vielen Gesellschaften die Hauptlast der landwirtschaftlichen Arbeit tragen, aber oft zu wenig Rechte und keinen Zugang zu Bildung haben.
Sowohl von seinen Aussagen als auch von seiner Entstehungsgeschichte her ist der Weltagrarbericht derzeit eines der wichtigsten Dokumente zur Frage von Landwirtschaft und Ernährungssicherung. Er hat großen Einfluss auf die Diskussion in staatlichen und nichtstaatlichen Entwicklungshilfeorganisationen und auch in übernationalen Gremien. Dass ihn die deutsche Bundesregierung im Gegensatz zu 58 Regierungen – etwa von Frankreich, Großbritannien, China, Indien, Brasilien – bis heute nicht unterzeichnet und sich im Gegensatz etwa zu den USA auch nicht an seiner Erstellung beteiligte, ist schlicht ein Ärgernis. Es wird dadurch nicht geringer, dass der Parlamentarische Staatssekretär des Landwirtschaftsministeriums, Gerd Müller, im Bundestag erklärte, die Bundesregierung halte den
Weitere Kostenlose Bücher