Fool on the Hill
wieder auf, steht auf und dreht sich um, und Charlie lehnt sich blitzschnell zurück, um dem Schwinger auszuweichen. Er lacht und sieht die Klinge, und der Triumph verwandelt sich in Entsetzen, als er begreift, daß es kein Fausthieb, sondern ein Schnitt ist. Feuer brennt sich in seine Brust ein
und er ist im Arbeitszimmer seines Vaters, schaut Drew Hyatt aus einem unmöglichen Blickwinkel an, Traum-Perspektive. Der Schreibtisch ist mit einem Gebirge von Büchern und Broschüren vollgestapelt; vor sich hin murmelnd, hätschelt Drew eine Flasche Gin mit der einen Hand und ein zerlesenes Traktat mit der anderen. DIE RAGNARöK NAHT , lautet die Überschrift, ODER EIN VERGLEICH ZWISCHEN DER ALTNORDISCHEN APOKALYPSE UND DEM NIEDERGANG DER ARISCHEN RASSEN IM NORDAMERIKA DER NEUZEIT, VON DR. HIRAM VENABLE.
»Steht irgendwo hier«, sagt Drew. Er stellt die Flasche ab, macht sich mit einer Hand, die niemals aufhört zu zittern, eine Notiz. Der Stapel von Exzerpten ist fast so hoch wie der von Broschüren. Schlagartig verändert sich die Perspektive, und man kann lesen, was auf dem obersten Blatt steht - eine endlose Wiederholung des einen Satzes: »Ihre einzigen Tränen sind trockene Tränen.«
»Steht irgendwo hier«, wiederholt Drew
und jetzt ist es Nacht, wieder rennt Charlie über ein weites Feld, doch diesmal jagt er nicht einen dunklen Jungen, sondern ein Mädchen mit rotblonden Zöpfen. »Lisbeth«, ruft er, und sie lacht und rennt weiter, aber nicht so schnell, sie will sich von ihm einholen lassen. Er riecht den Tabak um sie herum, fühlt die Feuchtigkeit der Blätter, die seine Beine streifen. Man hat die pflanzen abgespritzt. Nur für alle Fälle. Dem Feuer ist schließlich nicht zu trauen, man muß auch an möglichen Funkenflug denken.
»Lisbeth«, ruft er wieder, und als sie stehenbleibt und sich nach ihm umdreht, erkennt er am Rand seines Gesichtsfeldes auch das Kreuz, das hell auflodert. Die weißgewandeten Ghuls bilden einen Kreis darum. Unbestimmt flackernde Silhouetten.
»Hier bin ich, Charlie«, sagt Lisbeth lächelnd. Ihre Baumwollbluse ist oben aufgeknöpft, an ihrer Kehle funkelt ein Medaillon. Charlie streckt eine Hand nach ihr aus
und greift in Rasiermesserklingen, das Kreuz brennt noch immer am Horizont seines Bewußtseins, aber er ist jetzt wieder im Wohnzimmer, vor ihm der zerschmetterte Spiegel.
»Das war fällig, Partner.« Seines Vaters Stimme hinter ihm. »Du hast es darauf angelegt.«
Blut läuft ihm aus einem weiteren Schnitt ins Auge. Am schlimmsten aber ist die Schulter zugerichtet; eine zackige Scherbe hat ihm ein Loch in den Muskel gebohrt.
»Das war fällig«, wiederholt sein Vater. »Gordon Small. Eine Niggerholzhandlung. Du machst mir Schande. Du machst mir Schande.«
Charlie hebt seine rechte Hand, zieht die Spiegelscherbe mit einem Ruck aus seiner Schulter. Der Schmerz ist unbeschreiblich; haarfeine Splitter bleiben brennend in der Wunde zurück. Charlie starrt auf die Scherbe in seiner Hand, ein winziger reflektierender Dolch. Er droht, an seiner Wut zu ersticken, dennoch spricht er die Worte: »Ich hab dich lieb, Papa. Ich hab dich immer liebgehabt.«
»Du machst mir Schande«, sagt Drew Hyatt.
Das brennende Kreuz.
Seines Vaters Blut, heiß auf seinen Fäusten.
Stephen George und der Drache
I
Knapp drei Tage später saß George an seiner Schreibmaschine. Er hatte eine Kurzgeschichte in der Mache, zu der ihn einer der Grabsteine inspiriert hatte, die ihm vor nunmehr fast zwei Monaten auf dem Knochenacker aufgefallen waren. Es war die Geschichte des Harold Lazarus, eines Klempners, der unbußfertig gestorben war. Zur Strafe für seine zahlreichen Sünden war er in einen Wasserspeier verwandelt und dazu verurteilt worden, alle undichten Rohre des tiefsten Höllengrundes zu flicken. Eine im wahrsten Sinne des Wortes endlose Arbeit, wenn man bedachte, daß die Hölle die Kloakenzentrale des Universums war. Lazarus’ einziger Trost war die Abwesenheit seiner Gattin, der Nörgelzentrale des Universums. Indes nahte die Stunde ihres Todes, und Lazarus’ verzweifelte Bemühungen, sie gen Himmel und Seligkeit zu scheuchen - er morste auf den undichten Rohren haarsträubend abschreckende Schilderungen der Höllenqualen, die sich immer; weiter, bis auf die Erde und ins Lazarussche Klosett (sowie, unbeabsichtigterweise, in Trilliarden anderer Klosetts auf der ganzen Welt) fortpflanzten -, bildeten den Kern der Geschichte. Ihr Arbeitstitel hieß ›Die Brille des
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