Fool on the Hill
davon, was sie mir schon angetan hat? Ich wäre heute beinah gestorben. Ich hatte mich schon völlig aufgegeben.«
»Ich will dich nicht zur Liebe zwingen, George«, sagte Aurora in flehentlichem Ton. »Sie... sie hat zu mir gesagt...« »Na los, sag’s nur.«
»Sie meinte, ich sollte dich fragen, ob du dich überhaupt daran erinnern kannst, wie sie aussah.«
»Wie sie aussah? Mach dich nicht lächerlich, natürlich kann -«
Er erlebte einen weiteren Schock, den dritten und letzten. Vier Monate. Nahezu ununterbrochen war Kalliopes Gesicht nur zentimeterweit von seinem entfernt gewesen, über ihm, unter ihm, ständig in seiner Nähe, bis es sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingeprägt zu haben schien. Jetzt aber... als er jetzt versuchte, es sich zu vergegenwärtigen, verschwamm die Erinnerung wie zerfließende Wasserfarben. Natürlich hatte er noch einen allgemeinen Eindruck von ihr, hätte sie bestimmt mühelos beschreiben können; doch sich ein deutliches, scharfes Bild von ihr ins Bewußtsein zu rufen, das war ihm unmöglich, und diese Erkenntnis erschütterte ihn.
»Das Foto!« rief er plötzlich. »Ich habe ein Foto von ihr in meiner Brieftasche. Da drüben!« Er deutete auf den Wandschrank, in dem seine Sachen verstaut worden waren, als man ihn in ein weißes Krankenhausnachthemd gesteckt hatte. »Schnell, schau in der Hosentasche nach, vorne links!«
Aurora tat wie verlangt, zog die Brieftasche heraus und reichte sie ihm. Er durchsuchte sie in fliegender Hast und fand das Foto... von einem Baum im Sonnenschein.
»Nein!« Es war schon fast ein Schrei; der Student tauchte kurzzeitig aus seiner Starrsucht auf, um einen Blick über den rasenden Irren gleiten zu lassen. »Nein, nein, das ist nicht fair, ganz und gar nicht fair! Sie stand genau da, direkt vor dem... ach Scheiße!« Er zerriß das Foto und warf die Stücke angewidert auf den Boden. »Toll! Wirklich toll! Zuerst verliere ich sie, dann geht mein Gedächtnis flöten. Was kommt als nächstes?«
»Komm mit mir nach Haus«, schlug Aurora leise vor.
»Zur Balch?«
»Nach Wisconsin.«
»Wisconsin?«
»Eigentlich sollte Brian mich heimfahren«, erklärte sie, »aber ich glaube nicht, daß er das jetzt noch will. Ich weiß, daß du kein Auto hast, aber du könntest doch ohne weiteres eins mieten. Komm mit mir nach Hause. Wir werden zusammen frühstücken, genau wie in meinem Traum.« »Das ist völlig verrückt.«
Aurora nickte. »Und beängstigend dazu. Besonders, weil ich nicht weiß, was danach passieren wird. Aber sie hat gesagt, das wäre das Beste, und... ich weiß nicht warum, aber ich vertraue ihr... auch wenn sie nur ein Traum ist.«
George schüttelte den Kopf und stöhnte. »O Mann, o Mann, seit wann lebe ich in einer meiner eigenen Geschichten? Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn...«
»Es ist Wahnsinn, George. Aber wirst du es tun?«
Seine Antwort ließ lange auf sich warten, doch dann überraschte sie keinen von beiden.
»Ich komme mit. Habe ich eine andere Wahl?«
IV
Die Wolken hatten sich verzogen, und der Wind war wieder einmal abgeflaut. Der Bote landete hart, aber nicht ohne Anmut auf dem Knochenacker. Er hatte in einer schrecklich kurzen Zeit einen schrecklich langen Weg zurückgelegt, doch er war nicht müde; zu ermüden war ihm schlechterdings unmöglich.
Er setzte im Mittelpunkt des Kreises aus sich neigenden Grabsteinen auf; und kaum daß er stand, senkte er den Kopf und klopfte mit seinem eisigen Schnabel einmal, zweimal auf den Boden.
Die Erschütterung pflanzte sich etwa anderthalb Kilometer über die Grenzen des Knochenackers hinaus kreisförmig fort, ließ dabei Gebäude erbeben, versetzte Tiere in Angst und Schrecken und flößte kleinen Gegenständen scheinbares Leben ein. George und Aurora, die sich klammheimlich aus einem Seiteneingang der Poliklinik geschlichen hatten, klammerten sich ängstlich, als seien sie persönlich bedroht, aneinander; und sie litten keineswegs an Verfolgungswahn.
Es hielt nicht lange an. Ja, das Erdbeben hörte fast ebenso schnell wieder auf, wie es angefangen hatte. Sie faßten sich wieder; Mann und Frau traten Arm in Arm ins Freie, und erfüllt von einer neuen Vorahnung, wandelten sie zusammen unter den Sternen.
Vor dem Sturm
I
Am 21. Dezember, dem ersten echten Winter-(und dem letzten Prüfungs-)tag, schneite Ragnarök in Risley herein. Im Lauf der letzten Woche hatte sich der Campus fast völlig geleert, und da er unangemeldet kam, rechnete der
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