Fool on the Hill
ein so großes Loch in das Nordfenster hatte schlagen können, hätte kehrtmachen und weglaufen müssen. Statt dessen verflog ihre frühere Angst, und sie begab sich, vorsichtig den Glasscherben ausweichend, zur nordöstlichen Ecke des Saales, wo eine Wendeltreppe zu den oberen Etagen führte.
Tapp...
Einen Fuß auf der ersten Stufe, das Gesicht wie in Trance. Ein verborgener Teil ihres Wesens versuchte, sie zu warnen, sie zur Flucht zu bewegen, doch ihr Körper reagierte nicht.
...tapp...
An der mittleren Ebene vorbei, auf halber Höhe; sie stieg schneller und schneller.
...tapp.
Und jetzt war sie oben angelangt, hatte die oberste Regalebene betreten. Noch ein paar schnelle Schritte, und sie hatte den Steg erreicht, der sich von der West- zur Ostwand quer durch den Raum spannte. Hier hielt sie inne. Am anderen Ende des Steges - nicht weit von ihr entfernt, denn die White-Bibliothek ist lang, aber schmal - hing ein im Dunkeln gespenstisch leuchtendes weißes Laken wie ein Duschvorhang zwischen zwei Bücherregalen. Das Laken schwankte vor und zurück, schien ihr zuzuwinken, sie zu rufen. Dahinter verbarg sich die Quelle des Geräusches: ein Klopfen von Metall auf Metall.
Tapp, tapp, tapp.
Drei lange Schritte, und Jinsei stand direkt vor dem Vorhang. Wieder hielt sie inne, während ihre innere Stimme schrie, kreischte. Ohne sie zu beachten, hob sich ihre linke Hand, um das Laken zur Seite zu ziehen. Ihre Finger berührten den Stoff, der nahezu lebendig wirkte.
Von irgendwo weiter oben erklang ein anderes Geräusch, wie ein gedämpfter Schuß. Jinseis Hand erstarrte.
Das Tuch flog trotzdem zur Seite. Die Gummimaid fuhr aus ihrer kauernden Stellung auf und schwang die Keule in einem diagonalen Bogen empor. Hätte Jinsei auch nur im mindesten gezögert - sich auch nur die Zeit zu schreien genommen -, dann hätte die Polizei ihren Körper vermutlich unter dem zerbrochenen Fenster aufgefunden, mit Pulverschnee glasiert und mit eingeschlagenem Kopf. Doch sie zögerte nicht; sie warf sich (gelobt seien die Reflexe) sofort zurück. Dennoch hätte sie der erste Hieb erledigt, wenn ihre Füße sich nicht just diesen Augenblick ausgesucht hätten, um übereinander zu stolpern. Sie fiel nach hinten, und während sie stürzte, sauste die Keule an ihr vorbei, und lediglich die Spitze der Waffe streifte wie ein liebkosender Finger die Spitze ihrer Nase.
Unbeirrt machte die Gummimaid einen Schritt nach vorn und holte zu einem zweiten Schlag aus. Als die Waffe den Scheitel ihrer Bogenbahn erreichte, blickte Jinsei direkt in die blau glühenden Augen der Puppe. Im selben Moment wußte sie, was auf der Hängebrücke geschehen war; wußte sie, daß Prediger tot war, und warum.
Vielleicht wird es dir einmal Glück bringen.
Die Wut gab ihr Kraft. In dem Augenblick, als die Keule losschnellte, sprang Jinsei auf und ging selbst zum Angriff über. Sie holte mit dem rechten Arm aus, führte den Schlag mit dem Handgelenk, an dem der in Silber gefaßte Armreif jetzt wie grünes Feuer loderte. Er traf die Gummimaid voll auf die Wange.
Der Armreif zersprang mit einem Knall wie ein Gewehrschuß in Stücke. Der Hieb der Puppe ging daneben: Die Keule traf das Geländer des Stegs, glitt ihr aus der Hand und wirbelte ins Dunkel. Die Gummimaid selbst flog, wie von einer Trosse nach hinten gerissen, zurück und knallte gegen das Regal, das mit einem Wolkenbruch von Büchern zusammenkrachte. Doch das Feuer in ihren Augen erlosch nicht.
»O Gott«, krächzte Jinsei. Die Wut verließ sie ebenso rasch,; wie sie sie gepackt hatte, und an ihre Stelle trat das unerträgliche Bewußtsein ihres Verlustes. Sie taumelte gegen das Geländer, versuchte blinzelnd die Tränen zurückzuhalten, während sich das weiße Laken verführerisch wispernd an den Regalen rieb. »O Gott, Pre -«
Die Gummimaid reckte den Arm; setzte sich auf. Mehr Bücher regneten herab.
Und wieder reagierte Jinsei reflexartig. Jetzt mit nackten Handgelenken, ergriff sie das Geländer und schwang sich darüber. Die Gummimaid machte einen Satz nach vorn, um sie zu packen, schaffte es aber nicht ganz: Plastikfinger bekamen einen
Hosenaufschlag halb zu fassen und ließen ihn wieder entschlüpfen.
Bis zum Fußboden war es ein tiefer Sprung.
Von der Turmspitze bis zum Dach der Bibliothek war es ein tiefer Sprung. Jetzt kaum mehr als ein flügelloses Rohr mit Propellerantrieb, hing der vormalige Doppeldecker in einem atemberaubend steilen Winkel über dem Abgrund. Die Flügel des
Weitere Kostenlose Bücher