For the Win - Roman
Millionen Jungen und Mädchen auf der Suche nach Wohlstand nach Kanton trieb. Matthew verstand den fremden Akzent dieser Menschen, er sprach auch deren seltsames Mandarin, doch er war Kantonese, und sie waren nicht seine Leute.
Und schon gar nicht waren die seltsamen Dinger, die sie anboten, die ihm vertrauten Teigtaschen.
Erst, als er in den Randbezirken Shenzhens in die Straßenbahn umstieg, begann er sich wieder zu Hause zu fühlen. Und da fing er dann auch an, ernsthaft ans Essen zu denken. Die Mädchen in der Metro waren so, wie er sie in Erinnerung hatte: schön, rausgeputzt, wohlgenährt und guter Dinge.
Als er sich im Eingangsbereich des Abteils herumdrückte und sein Spiegelbild im dunklen Glas musterte, fiel ihm auf, was für ein wandelndes Gerippe er geworden war. Vor dem Arbeitslager war er ein sehr junger Mann gewesen, fast noch ein Junge. Jetzt sah er fünf Jahre älter aus, hohläugig, zwielichtig, und auf seinen Wangen wuchs etwas Flaum, der ihre Ausgezehrtheit noch unterstrich. Er sah wie Abschaum aus – so wie die Gauner, die an Bahnhöfen und Straßenecken rumhingen, abgehärmt und zu allem bereit, unberechenbar wie Ratten.
Und wieso auch nicht? Ratten kamen an eine Menge Teigtaschen. Sie hatten scharfe Zähne und einen scharfen Verstand. Sie waren schnell . Matthew grinste sein Spiegelbild an, und von da an schlugen die Mädchen im Zug einen weiten Bogen um ihn.
Lu erwartete ihn an der Guo-Mao-Haltestelle, wo die Börsianer in strammer Kleidung und mit strammem Schritt die Bahn bestiegen; die perfekte Menschenmenge, um sich in ihr zu verlieren. Lu griff nach seinen Händen, begrüßte ihn mit einem langen, stillen, warmen Händedruck und führte ihn danach Richtung Börse, wo sich die Fälscher herumtrieben.
Diese Leute hielten Shenzhen und eigentlich ganz Guangdong am Laufen. Sie konnten einem sämtliche Papiere besorgen, die man brauchte: die Arbeitserlaubnis, die Mädchen aus Xi’an ermöglichte, nach Shenzhen zu ziehen und iPods herzustellen; Dokumente, die einen als Anwalt, Arzt oder Ingenieur auswiesen; Führerscheine, Gewerbescheine, selbst Pilotenscheine, wenn man der Visitenkarte einer Fälscherin Glauben schenken durfte. Viele von ihnen waren alte Frauen – die freundliche Fassade der kriminellen Strukturen, die von üblen Kerlen in schwarzen Maßanzügen gelenkt wurden, die unvermeidliche Zigarette im Mund, die Schultern voller Schuppen.
Schweigend schritten sie durch das lärmende Gedränge und ignorierten die Flut von Werbematerial, das ihnen die alten Mütterchen von allen Seiten entgegenstreckten. Bei einer der Frauen blieb Lu stehen, beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte kurz und wedelte dann weiter mit ihren Zetteln, doch sie musste jemandem ein Zeichen gegeben haben, denn kurz darauf erhob sich ein Junge von einer Bank und schlenderte in ein großes Elektrogeschäft. Sie folgten ihm, vorbei an Reihen von Handyzubehör – Tastaturen, Displays, Dioden – , eine Rolltreppe nach oben in ein weiteres Stockwerk voller Einzelteile, dann eine weitere Rolltreppe und eine weitere Etage hinauf und schließlich bis zu einem Stockwerk, das völlig verlassen dalag. Die Stromanschlüsse waren nicht fertiggestellt. Nackte Drähte ragten aus den Wänden und warteten darauf, an eine Steckdose angeschlossen zu werden.
Hinter dem Jungen, der etwa hundert Meter vor ihnen ging, bogen sie in einen Korridor ein, der zu einem Notausgang führte. Kurz davor stieß Lu eine Seitentür auf, die nur angelehnt war. Plötzlich war der Junge verschwunden – er musste die Feuertreppe genommen haben – , doch dafür saß da ein anderer Junge, jünger als Matthew und Lu, vor einem Computer und spielte Mushroom Kingdom . Er war völlig in das Spiel versunken, und Matthew musste lächeln, denn er war es gar nicht mehr gewohnt, jemanden das Spiel nur des Spaßes wegen spielen zu sehen.
Schließlich sah der Kleine kurz auf und nickte ihnen zu. Kommentarlos reichte Lu ihm ein Bündel Geld, das der Junge aufmerksam zählte, eine bunte Mischung aus Hongkong-Dollar und chinesischen Yuan. Mit einer routinierten Geste steckte er das Geld ein, dann wies er auf einen Schemel in der Ecke vor einem weißen Wandschirm. Immer noch ohne ein Wort nahm Matthew auf dem Schemel Platzund bemerkte dabei die kleine Webcam auf dem Tisch des Jungen, die nun direkt auf ihn gerichtet war. Er verzogdas Gesicht zu einem Ausdruck verlegener Ernsthaftigkeit, diesem schrecklichen Gesichtsaudruck, den Menschen
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