Forbidden
um die Situation aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
Schließlich sage ich verzweifelt: »Ich verstehe ja, dass du dich über Lochan ärgerst, Kit, weil er sich wie ein Vater verhält, ohne einer zu sein. Aber es ist nicht seine Schuld, dass Dad uns verlassen hat, und es ist nicht seine Schuld, dass Mum so ist, wie sie ist. Er kümmert sich um uns, so gut er kann, weil es sonst niemand tut. Glaub mir, Kit, er würde viel lieber dein Bruder und Freund sein. Aber überleg doch – so, wie es nun mal gewesen ist, was hätte er denn tun sollen? Welche Wahl hatte er denn?«
Als die Haustür endlich ins Schloss gefallen ist und die aufgeregten Stimmen von Tiffin und Willa sich auf der Straße entfernen, seufze ich erleichtert auf und schaue auf die Küchenuhr. Wie viele Stunden haben wir für uns, bis Tiffin und Willa anfangen werden, sich zu streiten; bis Kit herummosert, weil ihm das Geld endgültig ausgegangen ist; und bis Mum beschließt, dass sie genug getan hat, um ihre Abwesenheit während der Woche wettzumachen? Insgesamt vielleicht drei Stunden – vier, wenn wir Glück haben.Ich spüre den Impuls, sofort aufzuspringen, um das Beste daraus zu machen, all das anzugehen, was ich schon immer tun wollte, aber nie geschafft habe, weil immer etwas Dringenderes dazwischenkam … Doch plötzlich fühlt es sich nach dem allergrößten Luxus an, einfach nur hier in der stillen, leeren Küche zu sitzen, zu sehen, wie die Sonne durchs Fenster fällt, auf meinem Gesicht zu spüren, wie warm ihre Strahlen sind – und nichts denken, nichts tun zu müssen: keine Hausaufgaben, die gemacht werden müssen, kein Streit mit Kit, kein Nein zu Tiffin, kein Unterhaltungsprogramm für Willa. Einfach nur dasitzen. Ich habe das Gefühl, als könnte ich endlos hier so sitzen – an einem sonnigen Vormittag, an dem nichts geschieht, auf einem Küchenstuhl, die Arme auf die geschwungene Lehne gelegt – und den Sonnenstrahlen zuschauen, die zwischen den letzten Blättern hindurchtanzen, den Ästen, die durchs Fenster hereinblicken, und ihren schwankenden Schatten auf dem gekachelten Fußboden. Stille erfüllt die Luft wie ein wunderbarer Duft: keine lauten Stimmen, keine zugeschlagenen Türen, kein Getrappel, keine ohrenbetäubende Musik, keine plappernden Stimmen aus irgendwelchen Zeichentrickfilmen. Ich schließe die Augen, die Sonne streichelt mein Gesicht und lässt meine Lider rosa aufleuchten, dann lege ich den Kopf auf die Arme.
Ich muss eingeschlafen sein, denn die Zeit hat plötzlich einen Satz nach vorne gemacht, und als ich mich aufrichte, sitze ich in einem breiten Streifen hellen Lichts. Mein Nacken ist steif, ich fahre mit der Hand darüber und massiere ihn. Dann dehne ich mich, stehe ungelenk auf, gehe zum Spülbecken und fülle den Wasserkessel. Als ich mit zwei dampfenden Bechern in den Flur hinaustappe und die Treppe hochwill, höre ich ganz in der Näheein Papierrascheln. Lochan hat sich im Wohnzimmer ausgebreitet, Ringordner, Schulbücher und Notizblätter sind über den Couchtisch und den Teppich verstreut. Er selbst sitzt auf dem Boden, den Rücken gegen das Sofa gelehnt, ein Bein unter dem Tisch ausgestreckt, das andere angewinkelt, um ein dickes aufgeschlagenes Buch gegen den Bauch zu drücken. Er sieht wieder viel besser aus und wirkt entspannter, seine Haare sind noch nass vom Duschen, er ist barfuß und hat sein grünes Lieblings-T-Shirt und eine ausgewaschene Jeans an.
»Danke!« Er legt das Buch fort und nimmt den Becher. Dann lehnt er sich zurück und bläst in seinen heißen Kaffee, während ich mich gähnend gegenüber an die Wand lehne und mir den Schlaf aus den Augen reibe.
»Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so geschlafen hat wie du eben. Dein Kopf baumelte richtig über die Stuhllehne. Wäre das Sofa nicht bequemer gewesen?« Er lächelt. Wie selten er lächelt. »Erzähl mir, wie hast du es geschafft, sie alle aus dem Haus zu kriegen!«
Ich erzähle ihm von meinem Vorschlag mit dem Battersea Park und meiner Lüge mit dem Babysitten.
»Und du hast Kit dazu überreden können, den kleinen Familienausflug mitzumachen?«
»Ich hab ihm erzählt, dort gäbe es auch Spielautomaten.«
»Und? Gibt es?«
»Keine Ahnung.«
Wir lachen beide. Aber Lochan wird schnell wieder ernst. »Und wirkte Kit …? War er …?«
»Absolut in Ordnung. Und in Höchstform, wenn du weißt, was ich meine.«
Lochan nickt, aber ganz beruhigt scheint er nicht zu sein.
»Ehrlich, Lochan. Es geht ihm gut.
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