Forbidden
nehmen, keiner blickt ihm nach. Kein Einziger gratuliert ihm. Zuerst denke ich, dass es sich dabei um eine Art Geistergeschichte handelt. Dass dieser junge Mann zwischen den Prüfungen und dem Aushang der Ergebnisse ums Leben gekommen ist, vielleicht bei einem Unfall. Doch einer der Professoren, der seinen Namen falsch ausspricht, grüßt ihn schließlich, also liege ich da wohl falsch. Der junge Mann ist nicht tot, er lebt. Doch als er das Institut verlässt, sieht er zu den hohen Gebäuden ringsum hinauf und versucht abzuschätzen, welches sich am besten für einen Sprung in die Tiefe eignet.
Damit ist die Geschichte zu Ende, und ich blicke hoch. Ich bin erschüttert und wie betäubt, überwältigt von der Kraft derGeschichte und plötzlich den Tränen nahe. Ich schiele zu Lochan, der mit den Fingern nervös auf den Teppich klopft, die Augen geschlossen hat und physikalische Formeln vor sich hin murmelt. Ich versuche mir vorzustellen, wie er diesen ergreifenden, tragischen Text geschrieben hat, und es gelingt mir nicht. Wer kann sich eine solche Geschichte ausdenken? Kann einer so plastisch und lebendig über all das schreiben, ohne selbst einen solchen Schmerz, eine solche Verzweiflung, ein solches Gefühl abgrundtiefer Fremdheit erfahren zu haben?
Lochan öffnet die Augen und schaut mich an. »Schließt man eine niederfrequente Wechselspannung – zum Beispiel von f = 10 Hz – an, führt der Probemagnet eine Drehbewegung aus. Ist die Frequenz verstellbar, ergibt sich eine einstellbare Umdrehungszahl. Bei einer Zylinderspule ist die Kraftwirkung proportional zur Windungszahl …«
»Deine Geschichte ist unglaublich.«
Er blinzelt. »Was?«
»Der Aufsatz in Englisch, den du letzte Woche geschrieben hast.« Ich blicke auf die Überschrift: »Wolkenkratzer«.
Lochan kneift unmerklich die Augen zusammen, und ich spüre, wie sein Körper sich anspannt. »Was machst du da?«
»Ich hab nur so durch deinen Englischordner geblättert und dann das gefunden.« Ich halte die Seiten hoch.
»Hast du es gelesen?«
»Ja. Das ist verdammt gut, Lochan.«
Er blickt weg, fühlt sich ganz offensichtlich unwohl. »War nur nach so einer Geschichte, die ich mal im Fernsehen gesehen hatte. Kannst du mich jetzt abfragen?«
»Hey …« So schnell lasse ich ihn nicht darüber hinweggehen.»Warum hast du das geschrieben? Von wem handelt diese Geschichte?«
»Von niemand. Das ist nur eine Geschichte, okay?« Er klingt plötzlich verärgert, weicht meinem Blick aus.
Ich halte die Seiten mit seinem Aufsatz immer noch in der Hand und schaue ihn lange und eindringlich an.
»Du glaubst, das ist über mich? Das ist nicht über mich!« Er fühlt sich bedrängt, seine Stimme wird lauter.
»Okay, Lochan, schon okay.« Ich merke, dass ich nicht weiter darauf beharren darf.
Lochan kaut auf seiner Lippe herum, spürt, dass ich nicht überzeugt bin. »Na gut, manchmal nimmt man für so einen Aufsatz auch ein paar Dinge aus dem eigenen Leben, was man halt so kennt, verändert ein bisschen was, übertreibt hier und da.« Er schaut mich dabei nicht an.
»Hast du jemals …? Fühlst du dich manchmal so?«
Ich bin auf weitere wütende Reaktionen gefasst. Doch Lochan starrt nur mit leerem Blick die Wand an. »Ich denke … ich denke, jeder fühlt sich doch mal so … von Zeit zu Zeit.«
Mehr werde ich aus ihm nicht herausbekommen, das spüre ich. Bei seinen Worten wird mir ganz kalt. »Aber du weißt … du weißt, dass du dich niemals so einsam zu fühlen brauchst wie der junge Mann in der Geschichte. Das weißt du doch?«, sage ich hastig.
»Ja, na klar, natürlich weiß ich das«, meint er achselzuckend.
»Weil es immer jemanden geben wird, der dich liebt, Lochan – nur dich –, mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt.«
Wir schweigen beide einen Augenblick, und Lochan wendet sich dann wieder seinen physikalischen Formeln zu, aber seine Wangen sind immer noch rot, und ich weiß, dass er mir nichtwirklich zugehört hat. Ich blicke noch einmal auf die Anmerkung seiner Lehrerin ganz am Schluss.
»Und hast du ihn eigentlich dann in der Klasse vorgelesen?«, frage ich neugierig.
Er blickt hoch. »Maya, du weißt doch, das kann ich nicht«, antwortet er mit einem gequälten Seufzer.
»Aber der Text ist so gut!«
Er zieht ein Gesicht. »Danke! Und selbst wenn es so wäre, das ändert überhaupt nichts.«
»Ach, Lochie …«
Er lehnt sich ans Sofa, zieht die Knie ganz an sich heran und schaut aus dem Fenster. »Ich
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