Forellenquintett
blieb, als sie Jehle sah, stehen.
»Ja, Grüß Gott, der Herr Jehle!«, sagte die junge Frau. »Wir haben grad den gleichen Weg gehabt.« Sie versuchte ein Lächeln. »Ich sehe schon, Sie kennen mich nicht mehr.«
Jehle zögerte. Natürlich wusste er, dass eines der Mädchen aus Aeschenhorn Polizistin geworden war, so etwas spricht sich herum, auch wenn es schon seit langem nichts Besonderes mehr war, wenn eine junge Frau zur Polizei ging. Und er hätte sie auch sofort erkennen müssen, sie war die Tochter der Evi Ruoff, die dann nach Kanada oder Australien gegangen war und das Kind bei der Großmutter gelassen hatte. Aber aus irgendeinem Grund hatte er sich nicht erinnern wollen.
Das heißt, nicht aus irgendeinem Grund. Er wusste genau, aus welchem.
»Ich bin die Marlen Ruoff, meine Großmutter kennen Sie sicher...«
»Die Marlen, ja natürlich«, antwortete Jehle mechanisch und erwiderte den Händedruck, der kräftig war. Als ob sie es auf der Polizeischule eingetrichtert bekommen würden, dachte er, dass die Leute einen kräftigen Händedruck für ehrlich halten. »Kaum dreht man sich um, da sind die Firmlinge von gestern plötzlich bei der Polizei und stellen Strafzettel aus.«
»Die Zeit vergeht. Aber wir stellen nicht nur Strafzettel aus. Kann ich Ihnen denn behilflich sein?«
»Ist Herr Walliser wohl noch im Dienst?«, fragte Jehle und überlegte, wie er weiterreden sollte. »Ich kenne ihn von früher und wollte ihn etwas fragen... Wissen Sie, der Herr Walliser vom Dezernat für...« Er suchte nach einem Begriff, der ihm entfallen war oder den er nicht in den Mund nehmen wollte.
»Ja so«, sagte Marlen Ruoff, und etwas in ihrem Gesicht hatte sich verändert.
»Sie meinen den Hauptkommissar Walliser vom Dezernat I... Ich fürchte nur, der ist jetzt in einer Dienstbesprechung. Aber kommen Sie doch mit.«
Jehle folgte ihr zögernd. Der Eingangsbereich der Direktion lag in gedämpftem Licht und wirkte nicht viel anders als der einer neuen AOK-Geschäftsstelle, nur dass hinter dem Empfangstresen zwei Uniformierte saßen, der eine arbeitete an einem PC, der andere las den »Express«. Die Polizistin ging zu einem Telefon und wählte, aber es meldete sich offenbar niemand.
Sie legte wieder auf und lächelte bedauernd. »Wie ich Ihnen schon sagte - um diese Zeit ist es nie günstig. Wollen Sie auf ihn warten?«
Warten, dachte Jehle. Wie oft schon hatte er gewartet! Darauf, dass irgendjemand zu sprechen sein würde. Dass ihm irgendjemand eine Auskunft geben würde, eine Klarheit.
»Eigentlich nicht«, hörte er sich sagen. Welchen Grund hatte er denn, hier Umstände zu machen? »Es ist wegen damals«, sagte er und sah die junge Frau fast zornig an. »Eigentlich müssten auch Sie mir helfen können.« Er legte seine Mappe auf den Tresen und holte den »Express« heraus, den er so gefaltet hatte, dass die dritte Seite aufgeschlagen war. Mit dem Zeigefinger deutete er auf einen eingerahmten Artikel.
»Das war heute Morgen in dieser Zeitung, und ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
Zögernd, fast widerstrebend nahm Marlen Ruoff das Blatt, und begann zu lesen.
Der Mann aus dem Nichts ein genialer Pianist?
BERLIN. Niedergeschlagen. Ausgeraubt. Ein Mann ohne Erinnerung, ohne Namen. Nichts dringt zu ihm durch. Nur wenn er vor den Klaviertasten sitzt, kehrt er in eine geheimnisvolle Vergangenheit zurück.
Die Polizei rätselt über die Herkunft eines etwa 30jährigen Mannes, von dem man bisher nur weiß, dass er ein hochbegabter Pianist ist.
Der Mann war vor drei Wochen in Nähe des Berliner Sony-Centers überfallen und schwer verletzt worden. Als man ihn fand, hatte er keinerlei Papiere bei sich. Seither tappt die Polizei im Dunkeln. Der Unbekannte wird nirgends vermisst und von niemandem gesucht. Selbst die Einschaltung von Interpol hat keinerlei Hinweise erbracht.
Der Unbekannte selbst schweigt. Obwohl er sich inzwischen wieder erholt hat, war es bisher nicht möglich, in irgendeiner bekannten Sprache mit ihm Kontakt aufzunehmen.
»Der Mann sieht einen nur freundlich an, sonst kommt da nichts«, berichtet Dr. Marielouise Capotta, die Ärztliche Direktorin der Psychiatrie in der Charité. »Das Einzige, was wir von ihm zu hören bekommen, sind Klavierakkorde. Aber er spielt sehr schön. Wir haben ein eigenes Musikzimmer für die Patienten, und wir hoffen, dass er demnächst ein Konzert für sie gibt.« Karten für das Konzert des geheimnisvollen Unbekannten gibt es aber nicht: »Fremde dürfen
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