Forellenquintett
war selbst Alice geworden und trank mit der Herzkönigin Tee.
»Sie sind also Polizistin«, sagte die Herzkönigin, »ich hab das gleich gewusst. Manchmal muss man nämlich nur aus dem Fenster sehen, und deswegen weiß ich, dass Sie heute Nachmittag schon einmal hier vorbeigekommen sind, und weil Sie dabei von der Marlen Ruoff begleitet wurden, habe ich mir gedacht, diese andere Frau muss eine Kriminalbeamtin sein, und wenn sie das ist, dann ist sie wegen des wiedergefundenen Bastian hier, also glaubt die Polizei nicht, dass er es wirklich ist, den man da gefunden hat. Bingo?«
»Jein«, antwortete Tamar. »Wenn die Eltern ihn als ihren Sohn wiedererkennen, muss ich ihnen nicht den Glauben nehmen. Jedenfalls sehe ich das nicht als meine Aufgabe an. Trotzdem wollen wir wissen, was damals passiert ist, und da der junge Mann offenbar schwer traumatisiert ist, kann er uns nicht helfen. Also müssen wir es selbst herausfinden.«
»Und Sie sind eine, die es auch herausfinden wird, da kennen Sie nichts, was?« Unvermittelt lachte Walburga Kreitmeyer, jedenfalls legte sie ein prachtvolles Gebiss weißer kräftiger Zähne frei. »Und ich soll Ihnen jetzt irgendwie helfen. Aber da gibt es ein Problem dabei.«
»Das ist mir klar«, antwortete Tamar, »Sie treten ja nicht im Fernsehen auf, also werden Sie das, was Ihre Klientinnen oder Klienten Ihnen vielleicht erzählt haben, vertraulich behandeln. Aber vielleicht gibt es Informationen, Hinweise, die von sich aus weitergegeben werden wollen...«
Walburga Kreitmeyer hatte zunächst ruhig zugehört, nur auf ihrer Stirn hatte sich eine scharfe Falte gebildet. Aber jetzt fiel sie Tamar ins Wort. »Sie sind ein Schatz! Sie wollen, dass ich Ihnen ganz hemmungslos und brühwarm den Dorfklatsch auftische. Nur - Sie sind einem Irrtum erlegen. Der Klatsch hat seine Zeit, aber das Schweigen eben auch. Es gibt Dinge, über die redet man nicht. Die sind tabu. Der Knochenmann ist tabu und ebenso alles, was er berührt haben mag. Über das Verschwinden des kleinen Jehle ist nicht geklatscht und nicht geredet worden, das war kein Thema, die ganze Familie Jehle war für niemanden mehr ein Thema, von einem Tag zum andern, ich weiß, dass es Leute gegeben hat, die sind auf die andere Straßenseite gewechselt, wenn die Elisabeth Jehle entgegengekommen ist …« Sie unterbrach sich. »Die Elisabeth ist die Mutter von Bastian.«
Tamar nickte. Für sich hielt sie fest, dass Elisabeth Jehle vermutlich eine der Klientinnen der Kartenlegerin war.
»Ich wundere mich, wie Jehles Laden das überleben konnte«, fuhr Walburga Kreitmeyer fort. »Es hat viele Leute gegeben, die dort nicht mehr eingekauft haben. Es waren nicht unbedingt kaltherzige Menschen. Die wussten nur nicht, ob von ihnen erwartet wurde, dass sie nach Bastian fragen und in welcher Weise sie das tun sollten, oder ob sie sonst irgendwie Anteil zeigen müssen.« Sie trank einen Schluck Tee und fügte dann hinzu: »Menschen, denen ein Unglück widerfährt, sind gezeichnet. Und wer gezeichnet ist, der steht am Rand. Er ist noch nicht ausgeschlossen, aber die anderen meiden ihn. Sonst könnte sich das Zeichen übertragen.«
Tamar hatte artig zugehört. »Sie sprechen von Unglück«, sagte sie bedächtig. »Das Unglück bricht über die Menschen herein. Ein Kind ertrinkt - das ist ein Unglück. Ein Kind ertrinkt, weil es ins Wasser gestoßen wurde - das ist ein Verbrechen. Es mag sein, dass danach über das eine so wenig gesprochen wird wie über das andere. Aber Verbrechen haben eine Vorgeschichte. Und die...«
»… kann der geradezu ideale Nährboden für Klatsch sein«, vollendete Walburga Kreitmeyer den Satz. »Aber Klatsch, der nun schon mehr als siebzehn Jahre abgelagert ist … das wird ein bisschen schwierig. Vielleicht...« Sie unterbrach sich und hob beide Hände, als könne sie für nichts eine Gewährleistung übernehmen. »Sie werden das vermutlich nicht verstehen. Aber ich müsste meine Karten fragen … Schauen Sie nicht so!«
»Ich bitte um Entschuldigung«, antwortete Tamar, »aber ich habe mich gerade nur gefragt, wie ich das Honorar …«
»Kein Honorar!«, widersprach die Herzkönigin und holte aus den Tiefen ihres Umhangs ein Spiel Karten hervor. »Sagen Sie mir nur, was Sie von ihnen wissen wollen. Es gibt Fragen, die mögen meine Karten nicht, vorher weiß man das nie so genau. Aber einen Versuch ist es immer wert.«
»Fragen Sie, wohin der Junge gegangen ist, als er das Haus gegenüber verlassen hat.« Noch
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