Forgotten
Händen.
»Ist ja schon gut, London. Sieh bloß zu, dass du aus dem Bett kommst. Wir müssen bald los.« Sie dreht sich um und schließt die Tür hinter sich.
Zwanzig Minuten später, auf der Fahrt zur Schule, versucht sie ihr Glück erneut.
»Ist es wegen diesem Jungen?«
Empört fahre ich zu ihr herum. »Hast du meine Notizen gelesen? Du weißt genau, dass du das nicht darfst, das ist ein Eingriff in meine Privatsphäre!«
»Sachte, sachte«, sagt Mom beschwichtigend. »Ich habe ganz bestimmt nicht deine Aufzeichnungen gelesen, London. Das würde ich nie tun. Wie kommst du überhaupt auf so etwas?«
»Weil du über diesen Typen Bescheid weißt.«
»London, du hast mir selbst von ihm erzählt«, sagt Mom milde.
»Ach so«, brumme ich. »Na ja, ist ja auch egal, ich will jedenfalls nicht drüber reden.«
»Wie du möchtest«, meint meine Mom mit einem wissenden Lächeln, das in mir den glühenden Wunsch weckt zu schreien. Zum Glück sind wir inzwischen an der Schule angekommen.
Kaum hat Mom in der Haltezone abgebremst, bin ich schon aus dem Wagen gesprungen. Ich werfe die Tür zu und gehe zielstrebig ins Gebäude, ohne mich noch mal nach ihr umzusehen.
Im Laufe des Vormittags wandelt sich die Wut auf meine Mutter in Wut auf die ganze Welt. Als Jason Samuels mir in Sport aus Versehen den Basketball an die Schulter wirft, schleudere ich ihn sofort zurück.
Mit voller Kraft.
Als Page sich an mich ranpirscht, um mich mit ihrer Brad-Schwärmerei zu behelligen, bringe ich sie mit einem einzigen messerscharfen Blick zum Schweigen.
Als ich auf dem Gang aus Versehen mit dieser bildschönen Goth-Tussi zusammenstoße, denke ich nicht mal dran, mich bei ihr zu entschuldigen.
Und als ich die Tür zur Bibliothek aufschiebe und an den Metalldetektoren vorbei zu meinem Platz marschiere, bin ich wild entschlossen, Luke entweder zur Schnecke zu machen, weil er nicht angerufen hat, oder aber ihn eisern zu ignorieren.
Bis er kommt. Und mich meinen Vorsatz sofort vergessen lässt, indem er fragt:
»Hast du Lust, heute Mittag zum Essen mit zu mir nach Hause zu kommen?«
Ich sehe nichts als Grübchen und blaue Augen.
»Ja«, sage ich sofort und bin nicht mal sauer auf mich deswegen. »Ja, hab ich.«
*
»Was ist denn das?«
Jamie ist viel zu neugierig. Ich habe bloß meine Tasche geöffnet, um vor der Stunde mein Spanischbuch einzupacken, und sie hat sofort den Umschlag gesehen.
»Nichts«, sage ich und werfe einen verstohlenen Blick darauf, bevor ich den Reißverschluss zuziehe und mir die Tasche über die Schulter schwinge.
Jamie sieht mich mit gerunzelter Stirn an. Sie glaubt mir nicht.
»Schon gut«, sage ich, während ich sie von meinem Schließfach weg in Richtung unserer Spanischklasse schleife. »Ich erzähl’s dir, aber es ist nichts Aufregendes.«
»Klingt ja hochinteressant«, meint sie und hakt sich bei mir unter. Jamie und ich werden zeitlebens Arm in Arm gehen. Es ist ein Zeichen unserer besonderen Verbundenheit, und mir gefällt es, vor allem an diesem Morgen, weil ich das Gefühl habe, dass ich mich auf sie stützen muss, um mit dem klarzukommen, was ich entdeckt habe.
Jamie sieht mich erwartungsvoll an.
»Das sind bloß ein paar alte Fotos und so«, sage ich leise, als wäre es ein Geheimnis.
»Von wem?«, will sie wissen.
»Von meinem Dad«, sage ich und ziehe ein Gesicht.
»Du bist total auf deinen Vater fixiert …« Jamie schüttelt den Kopf und sieht nach vorn, um uns unfallfrei durch den überfüllten Gang zu lotsen.
»Ich hab sie bei meiner Mom im Schrank gefunden. Sie waren versteckt, zusammen mit Dads alten Krawatten.«
»Du hast im Schrank deiner Mutter rumgeschnüffelt?«, fragt Jamie entrüstet. Als ob es darum ginge.
»Ja«, sage ich ungeduldig. »Aber die Fotos sind gar nicht das Schlimmste.«
»Was ist das Schlimmste?« Jamies seegrüne Augen ruhen wieder auf mir.
»Als ich noch klein war, hat er mir Geburtstagskarten geschickt«, sage ich, und mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken. Exakt drei Karten. Exakt drei Geburtstagskarten, die meine Mutter mir nie gezeigt hat.
»Was stand drin?«, fragt Jamie neugierig.
»Was in Geburtstagskarten halt so drinsteht«, lüge ich. In Wirklichkeit sind die Karten ziemlich deprimierend. Ein paar entschuldigende Worte, ein knapper Gruß, das war’s.
Aber immerhin gibt es sie.
Den Rest des Wegs zu Spanisch legen Jamie und ich schweigend zurück. Ich denke an meinen Dad, und sie hält meinen Arm ganz fest, als ob sie spürt,
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