Forgotten
dass ich das gerade brauche.
12
»Ist er das?«, flüstert Jamie und beugt sich zu mir. Wir haben unsere Tische so zusammengestellt, dass wir uns gegenübersitzen. Eigentlich sollen wir einen englischen Zeitungsartikel ins Spanische übersetzen, aber stattdessen flirtet Jamie mit Anthony, und ich starre auf verblichene Fotos, die ich gekonnt zwischen den Seiten meines Wörterbuchs verborgen habe.
»Muss wohl«, flüstere ich zurück.
Keine Ahnung, warum wir flüstern. Im Sprachlabor sind wir schließlich ausdrücklich dazu angehalten, miteinander zu sprechen. Ms Garcia wirft uns einen argwöhnischen Blick zu, was Jamie dazu veranlasst, extra laut den Titel des Artikels vorzulesen.
ERDBEBEN ERSCHÜTTERT MEXICO CITY.
» Terremoto …« , sagt sie, während sie den Satz aufschreibt. Sie übertreibt es absichtlich mit dem Zungen-r, um mich zum Lachen zu bringen.
Hinter mir höre ich Amber Valentine, die sich einen dabei abbricht, das Wort hambre auszusprechen, das »hungrig« bedeutet. Irgendwann gibt sie es auf und sagt stattdessen, im vergeblichen Versuch, damit ein paar Witzpunkte bei ihrem Arbeitspartner zu kassieren, »Tengo hamburger!« , und ich nehme an, der Grund, weshalb sie wie eine Irre über ihren blöden Scherz lacht, ist, dass Amber Valentine nicht nur so aussieht, sondern sich auch haargenau so verhält wie jemand, der Amber Valentine heißt.
»Zeig mir noch eins«, fordert Jamie mich auf, nachdem sie den Satz zu Ende geschrieben hat. Ich überlasse ihr das Wörterbuch mit den Fotos drin.
Während sie sie anschaut und dabei weiterarbeitet, betrachte ich die Bilder verkehrt herum und denke bei mir, dass mein Dad genau so aussieht, wie ich ihn mir vorgestellt habe.
Er hat freundliche Augen und ein breites Grinsen. Ganz offensichtlich habe ich meine Haarfarbe von ihm. Seine Haut allerdings ist – bis auf die Sommersprossen – geradezu gespenstisch weiß, während ich den etwas dunkleren Teint meiner Mom geerbt habe. Mit viel Geduld gelingt es mir im Sommer manchmal, einen Hauch von Bräune auf meine Haut zu zaubern. Dad ist dagegen auf den Fotos entweder schneeweiß oder krebsrot.
Mir ist, als könnte ich sein unbekümmertes, tiefes Lachen hören. Er scheint am liebsten alte Jeans und karierte Hemden getragen zu haben, und er sieht groß und stark aus, wie jemand, der jederzeit bereit ist, es mit echten oder imaginären Monstern aufzunehmen.
Bei einem Foto, auf dem zu sehen ist, wie mein Vater einer Kindergartenversion meiner selbst gerade das Schwimmen beibringt, hält Jamie inne. Auf dem Foto sieht er mich mit einer Mischung aus Staunen, Neugier und abgöttischer Liebe an, dass ich nur noch losheulen möchte.
Jamie sieht zu mir hoch, dann blättert sie um.
»Und das da ist deine Oma?«, fragt sie leise.
»Wo?«, sage ich und lehne mich über mein Pult. Sie dreht mir das Buch hin und zeigt auf jemanden im Hintergrund eines Bildes, auf dem mein Vater mich als kleines Baby auf dem Arm hat.
Tatsächlich, da steht eine Frau. Sie ist mir bis jetzt gar nicht aufgefallen.
Eine Frau, die ich nicht kenne, aber an die ich mich erinnere.
Eine Frau, die ich noch nicht getroffen habe, aber noch treffen werde.
Mein Herz schlägt schneller, als ich mir das Wörterbuch schnappe und es zu mir hinziehe. Ich beuge mich ganz dicht über die Seite, dann noch ein Stückchen dichter, und wünsche mir, ich hätte eines dieser winzigen Vergrößerungsglas-Monokel-Dinger, wie Diamantenhändler sie benutzen.
Mitten in der Spanischstunde, während Jamie mich anstarrt, als wäre es ihr unsagbar peinlich, mich zu kennen, macht etwas klick.
Ja, die Frau im Hintergrund des Fotos ist ganz eindeutig meine Großmutter. Sie schaut mich als Baby mit solcher Hingabe an, dass es fast schon weh tut. Aber noch mehr als das verrät sie ihr Aussehen. Ihre Haare sehen genauso aus wie meine, der gesamte Rest ihrer Erscheinung ist eine exakte Kopie meines Vaters mit dem ein oder anderen Einsprengsel von mir.
»Noch zwanzig Minuten!«, ruft Ms Garcia.
Jamie knurrt einen Fluch und greift nach unserem Zettel. Sie fängt an, wie eine Wilde zu übersetzen.
»Brauchst du Hilfe?«, frage ich.
»Nein, schmachte du ruhig deine Verwandtschaft an«, sagt sie, ohne aufzusehen.
»Danke.«
»Keine Ursache.«
Zwanzig Minuten später hat Jamie unsere Übersetzung abgegeben, die wir in einer Woche mit einem dicken roten Gut+ zurückbekommen werden, und wir packen unsere Sachen zusammen. Ganz vorsichtig stecke ich das Wörterbuch in
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