Forgotten
mich bekommen, da waren sie fünfundzwanzig oder so. Sie waren so arm, dass sie bei meiner Grandma im Keller wohnen mussten. Mein Dad hat Jura studiert, und meine Mom hat sich um mich gekümmert und nachts gearbeitet, um nebenbei ein bisschen Geld zu verdienen. Aber ich glaub, sie waren ziemlich glücklich – bis auf die Sache mit dem Geld, natürlich. Nach dem Studium hat Dad dann eine Stelle in einer großen Kanzlei in New York bekommen. Wir sind umgezogen, als ich ungefähr fünf war.«
»Du hast in New York gewohnt? Cool.« Ich denke an die Reisen, die ich später mal dorthin machen werde. Ich kann es gar nicht erwarten!
»Ja, das war’s auch. Ich meine, ich war ja noch ziemlich klein, aber ich kann mich noch an einiges erinnern. Meine Mom hat mir die ganze Stadt gezeigt, das fand ich richtig aufregend. Manche Kindheitserinnerungen vergisst man nie, weißt du, was ich meine?«
»M-hm«, lüge ich und setze eine wehmütige Miene auf.
Luke sieht mich von der Seite an, als wolle er mir eine Frage stellen, aber dann tut er es doch nicht. Stattdessen erzählt er weiter.
»Wie auch immer, lange hat der Spaß nicht gedauert. Dad wurde Partner in der Firma, und meine Eltern haben sich immer öfter gestritten, weil er die ganze Zeit nur noch im Büro war. Von morgens bis abends. Soweit ich mich erinnern kann, hab ich ihn in der Zeit kaum zu Gesicht bekommen.«
Wenigstens kannst du dich noch an ihn erinnern, denke ich.
Luke fährt vom Freeway ab und biegt in die Neubausiedlung ein, die genau gegenüber von meiner liegt, nur durch den Freeway getrennt. Ich freue mich, dass wir so nah beieinander wohnen.
Luke erzählt weiter. »Als ich ungefähr zehn war, haben sie sich scheiden lassen. Die nächsten zwei Jahre danach hab ich meinen Dad überhaupt nicht gesehen. Er hat Geburtstagskarten geschickt und so …«
Unwillkürlich zucke ich zusammen.
»… und natürlich hat er Unterhalt bezahlt. Wir sind dann irgendwann nach Boston gezogen. Meine Mom hat eine Stelle in einem Möbelhaus angenommen. Sie hat wahnsinnig viel gearbeitet, und die Sommerferien hab ich meistens bei meiner Tante und meinem Onkel verbracht.«
Wieder hält Luke inne, als warte er darauf, dass ich etwas sage. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, also sehe ich ihn einfach nur an, bis er wohl oder übel wieder auf die Straße schauen muss und weiterredet.
»Dann stand eines Tages Dad mit einem riesigen Strauß Blumen vor der Tür und hat Mom angefleht, es noch mal mit ihm zu versuchen. Sie hat ja gesagt. Er hat eine Stelle bei einer kleinen Bostoner Kanzlei angenommen und war jeden Abend um Punkt halb sechs zu Hause. Es war, als wäre New York nie passiert. Das war alles ziemlich komisch, aber so sind meine Eltern eben. Und dann haben sie mich eines Tages mit der Nachricht geschockt, dass sie Zwillinge bekommen.«
»Wow«, sage ich, weil mir nichts anderes einfällt.
»Ich weiß, tut mir leid. Das war bestimmt ganz schön langweilig.«
»Nein, überhaupt nicht, im Gegenteil. Das klingt wie das Skript zu einem Film.«
Luke lacht. »Wahrscheinlich hat jeder irgendwo im Leben sein eigenes filmreifes Drama.« Er sagt das auf eine Art, als könnte er direkt in meine Seele blicken. »Und was ist mit deinen Eltern?«, erkundigt er sich beiläufig.
»Meine Mom verkauft Immobilien«, sage ich, den Blick auf die Häuser geheftet, an denen wir vorbeifahren.
»Und dein Dad? Was macht der?«
»Keine Ahnung«, sage ich leise.
Luke sieht mich von der Seite an. »Tut mir leid, dass ich gefragt hab.«
»Ist schon in Ordnung«, lüge ich. In Wahrheit ist es alles andere als in Ordnung, ganz besonders heute, aber das muss ich nicht einem potentiellen Freund auf die Nase binden, von dem ich nicht mal weiß, ob er in meiner Zukunft überhaupt eine Rolle spielen wird. Ich bin erleichtert, als wir endlich vor Lukes Haus anhalten. Vor Lukes sehr neuem, sehr großem Haus.
Wir gehen rein, und nach einer kurzen Tour durchs Erdgeschoss verschwindet Luke in der Küche, um uns Sandwichs mit Putenbrust zu machen, während ich in der Bibliothek die Fotos auf dem Kaminsims studiere. Ich verspüre einen kleinen Stich des Neids beim Anblick der glücklichen Familie.
Ein Bild von Luke, auf dem er etwa elf oder zwölf sein muss, fasziniert mich ganz besonders. Jedes Mal, wenn ich zum nächsten Bild übergehen will, wird mein Blick wie von einem Magneten wieder zurückgezogen. Er sieht ein bisschen albern darauf aus, so als hätte er damals gerade modisch eine
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