Forgotten
meine Tasche, damit keine Fotos herausrutschen.
»Was machen wir heute in der Mittagspause?«, fragt Jamie und schwingt sich ihre Tasche über die Schulter. Erst jetzt fällt mir wieder ein, was ich in der Mittagspause machen werde. Ich richte mich auf und schaue sie an.
»Luke hat mich zum Mittagessen eingeladen«, eröffne ich ihr.
»Oh«, macht sie, ganz offensichtlich enttäuscht. Ich glaube, etwas in ihren Augen aufblitzen zu sehen. Wut? Eifersucht? »Na ja, macht nichts, dann gehe ich eben mit Anthony.«
»Tut mir leid, J.«
Dann fällt mir auf, dass Anthony schon verschwunden ist, und ich frage mich, mit wem sie wirklich die Mittagspause verbringen wird.
Als ich losgehe, um Luke zu treffen, bin ich in Gedanken nach wie vor bei den Fotos. Bei einem ganz bestimmten Foto, um genau zu sein. Einer ganz bestimmten Person.
Ich kann nicht glauben, dass ich sie heute Morgen nicht erkannt habe. Jetzt denke ich darüber nach, was dieses Wiedererkennen bedeutet. Einerseits habe ich eine Großmutter, eine lebenserfahrene, weise Frau, zu der ich aufsehen kann, die mich – davon gehe ich mal aus – liebt und die für mich Kekse backen und mir die Haare zu Zöpfen flechten würde. Na ja, gut, vielleicht nur das mit den Keksen.
Aber andererseits ist die einzige Zukunftserinnerung, die ich von ihr habe, zugleich meine traurigste Erinnerung überhaupt: Meine Großmutter ist nämlich die alte Frau mit der hübschen Käferbrosche auf der Beerdigung.
In meinem Kopf arbeitet es fieberhaft, als ich um die Ecke in die große Halle einbiege. Ich sehe Luke, der an eine Wand gelehnt dasteht, die Schultasche zu seinen Füßen. Er schaut zu Boden, offenbar in Gedanken versunken. Sobald ich mich frage, woran er wohl gerade denkt, trifft mich sein Blick. Er lächelt, stößt sich von der Wand ab und hebt seine Tasche auf.
Aus irgendeinem Grund sucht sich mein Verstand ausgerechnet diesen Moment aus, um das Rätsel zu lösen. Mitten in der Halle bleibe ich wie angewurzelt stehen. Fast wäre jemand von hinten in mich hineingelaufen.
Luke blinzelt verwirrt in meine Richtung.
Die Beerdigung.
Grandma.
Mom.
Es gibt nur eine logische Erklärung. Ich will den Gedanken auf gar keinen Fall denken, aber er drängelt sich an allen anderen vorbei ganz nach vorne durch.
Es ist die Beerdigung meines Vaters.
Mein Vater wird sterben.
Das war er, der Gedanke.
13
Zum Glück nimmt Luke all meine Aufmerksamkeit in Anspruch, und so habe ich die Angelegenheit bereits wieder in den hintersten Winkel meines Gedächtnisses verbannt, als wir das Gebäude verlassen. Wir schlängeln uns zwischen den Reihen parkender Autos durch bis ganz ans Ende des Parkplatzes, und dann stehen wir endlich vor seinem …
Minivan?
Er lacht, weil ich so ein verdutztes Gesicht mache.
»Ich dachte immer, Minivans sind Mütterkutschen.«
Luke klärt mich auf, dass es tatsächlich das Auto seiner Mutter gewesen sei, bis diese es gegen ein ach so praktisches SUV getauscht und ihm vermacht habe.
Als er den Motor anlässt, erkundigt sich Luke noch mal, ob ich wirklich damit einverstanden bin, bei ihm zu Hause zu essen, statt irgendwo eine Pizza holen zu gehen. Er sagt, seine Mutter sei heute mit seinen kleinen Zwillingsschwestern in die Stadt gefahren, um neue Klamotten zu kaufen.
Aha. Luke hat also zwei kleine Schwestern.
»Wie alt sind sie denn?«, frage ich und sehe mich im Wagen um.
»Knapp drei«, antwortet Luke.
Ich ziehe erstaunt die Brauen hoch.
»Fragst du dich gerade, ob meine Mutter zum zweiten Mal geheiratet hat?«, fragt Luke und lacht.
»So in der Art, ja«, räume ich ein. »Das ist ein großer Altersunterschied.«
»Ja, stimmt. Meine Eltern waren noch ziemlich jung, als sie mich bekommen haben.«
»Und dann wollten sie erst mal keine weiteren Kinder?«
»Genau. Sie haben sich scheiden lassen und dann irgendwann noch mal geheiratet. Erst danach haben sie die Zwillinge bekommen.«
Offenbar habe ich immer noch einen komischen Ausdruck im Gesicht, denn Luke sieht sich zu weiteren Erklärungen genötigt.
»Ein bisschen seltsam, ich weiß. Willst du die ganze Familiensaga hören?«
»Auf jeden Fall.«
»Also gut.« Luke grinst. »Als ich geboren wurde, haben meine Eltern noch in Chicago gewohnt. Sie sind schon in der Highschool ein Paar gewesen. Sie haben jung geheiratet, gleich nachdem sie mit der Schule fertig waren. Kannst du dir das vorstellen?«, fragt er kopfschüttelnd, wartet aber meine Antwort nicht ab.
»Na ja, jedenfalls haben sie
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