Forgotten
Geschähe ihr nur recht. Ich blicke hinaus in den kalten, klaren Abend.
Wir fahren immer weiter Richtung Norden, und eine flüchtige Sekunde lang frage ich mich, ob ich nicht vielleicht genauso dämlich bin wie diese Mädchen in Horrorfilmen, über die man sich als Zuschauer immer aufregt, weil sie ahnungslos dem Monster vertrauen, statt schreiend davonzulaufen. Ich lasse mich von jemandem, an den ich mich nicht erinnern kann, Gott weiß wohin kutschieren. Aber so schnell, wie der Gedanke gekommen ist, schiebe ich ihn auch schon wieder beiseite. Luke Henry hat nichts, aber auch gar nichts von einem Monster. An dem Jungen aus meinen Aufzeichnungen ist nichts auch nur ansatzweise monströs, im Gegenteil: Ich fühle mich vollkommen sicher und geborgen in seinem nach Pizza riechenden Minivan.
Ich blicke in den Himmel, und je weiter wir uns von der Stadt entfernen, desto mehr Sterne sind zu sehen. »Weißt du überhaupt, wohin du fährst?«, frage ich, obwohl mich die Aussicht, dass wir uns vielleicht verirren könnten, kein bisschen stört. »Ihr wohnt doch noch gar nicht lange hier.«
»Ich hab den Ort heute Nachmittag schon mal ausgekundschaftet«, gesteht er.
»Wie vorausschauend von dir«, lobe ich und rutsche tiefer in meinen Sitz. Ich fühle mich vollkommen wohl. Irgendwann fährt Luke vom Freeway ab auf eine Nebenstraße, dann biegen wir zweimal kurz hintereinander rechts ab, bis wir an eine Schotterpiste kommen, die sich einen kleinen Hügel hinaufschlängelt und irgendwo in der Dunkelheit endet.
Oben angekommen, holpern wir noch ein paar Meter durch Gras, bis wir vor einem Abhang stehen bleiben. Luke parkt vor einem Stacheldrahtzaun, an dem ein Schild mit der Aufschrift »Kein Durchgang« hängt und der uns davon abhält, den steilen Hang runterzurollen. Er schaltet den Motor aus, und die Scheinwerfer erlöschen. Ich sehe die funkelnde Stadt unten im Tal, die sich über mehr als zwanzig Meilen hin ausbreitet.
»Wahnsinn«, sage ich.
»Ja, das fand ich auch«, sagt er und blickt geradeaus auf das weit entfernte Lichtermeer.
Ich mag die Tatsache, dass ihm die Stadt gefällt. Sicherlich ist sie nicht besonders aufregend, aber sie wird immer ein Teil von mir sein.
»Dann warst du noch nie hier oben?«, will er wissen.
Gute Frage. »Äh, nein. Ehrlich gesagt weiß ich nicht mal genau, wo wir sind.«
Luke reißt den Blick von der nächtlichen Landschaft los und sieht mich an. Seine Hände liegen locker auf dem Lenkrad. »Du bist ganz schön vertrauensselig. Ich könnte ein Mörder sein.«
Nicht in den nächsten paar Jahrzehnten. »Irgendwie glaub ich das nicht«, sage ich langsam, wie gelähmt von seinen strahlenden Augen. »Dazu fühle ich mich bei dir viel zu sicher.«
»Das bist du auch.« Er sieht mich schweigend an, und ich denke schon, dass er sich gleich zu mir beugen und mich küssen wird, aber dann macht er es doch nicht.
Stattdessen sagt er: »Also gut« und schlägt mit der Hand leicht aufs Lenkrad. »Dann kann die Party ja losgehen. Hast du Hunger?«
»Ja, aber ich glaub nicht, dass es einen Lieferservice gibt, der bis hierher rausfährt«, sage ich und lasse den Blick über die weite Landschaft schweifen.
»Keine Angst, ich habe an alles gedacht. Einen Moment.« Luke steigt aus und verschwindet hinter dem Van. Ich drehe mich in meinem Sitz um, um zu sehen, was er da macht, und erst jetzt fällt mir auf, dass die mittlere Sitzreihe fehlt. Auf den hinteren Sitzen liegen zwei Polsterkissen, die so aussehen, als stammten sie von einem Sofa; eine weiche Strickdecke liegt säuberlich gefaltet daneben, darauf steht eine kleine Kühlbox.
Luke öffnet von hinten die Tür. Als er merkt, wie ich sein Arrangement in Augenschein nehme, und sich unsere Blicke begegnen, grinst er schief. Er hat ein Grübchen in der rechten Wange, und mein Magen macht einen kleinen Hüpfer.
Luke schließt die Rücktür mit einem leisen »Klunk!«. Statt sich wieder zu mir nach vorn zu setzen, öffnet er die Schiebetür an der Fahrerseite und klettert hinein. Er balanciert einen Wärmemantel für Pizzaschachteln auf der rechten Handfläche, unter dem linken Arm klemmt eine Plastiktüte.
»Lügner!«, sage ich.
»Komm nach hinten«, fordert er mich mit einem Lachen auf.
Statt zu versuchen, zwischen den Vordersitzen durchzuklettern und dabei halbwegs elegant auszusehen (was mir zweifellos misslingen würde), steige ich aus und dann durch die Schiebetür wieder ein. Auf allen vieren krabble ich zu Luke, der
Weitere Kostenlose Bücher