Forgotten
flüstere ich.
»Frag doch deinen ach so tollen Luke, ob der dir hilft«, knurrt Jamie, ohne von unserer Aufgabe hochzuschauen.
»Ich will meinen Dad finden.«
Jamie zuckt kurz, und ihre Miene wird ein ganz klein bisschen weicher. Dann schaltet sie gleich wieder auf patzig. »Dann googel ihn doch.«
»Hab ich schon versucht«, behaupte ich, ohne zu wissen, ob das stimmt.
»Gott. Du bist so durchschaubar. « Jamies Stimme trieft vor Verachtung, und sie sieht mich immer noch nicht an. Ich weiß nicht recht, was sie damit meint, also sage ich nichts. Sie seufzt, als hätte sie es sehr, sehr schwer im Leben, dann hebt sie den Blick und funkelt mich an. »Du machst hier einen auf unschuldig, dabei willst du, dass ich für dich in den Akten von meiner Mom nachsehe, stimmt’s?« Sie gibt sich Mühe, entrüstet zu klingen, aber es klappt nicht so richtig. Ich weiß genau, dass sie mir helfen wird. Jamie wird mir immer helfen, unser ganzes Leben lang, vielleicht weil sie glaubt, dass ich ohne sie verloren bin. In vielerlei Hinsicht bin ich das ja auch.
Allerdings habe ich keinen blassen Schimmer, von welchen Akten sie spricht.
»Geht es darum? Soll ich in Moms Fallakten nach deinem Dad suchen? Dann sag’s doch einfach.«
Beim Wort »Fall« geht mir endlich ein Licht auf. Jamies Mutter ist Anwältin; offenbar hat sie damals die Scheidung meiner Eltern geregelt. Ich lasse Jamie in dem Glauben, dass das die ganze Zeit über mein Plan war, und nicke.
»Du hast mich erwischt«, sage ich und setze ein belämmertes Gesicht auf. »Hör mal, Jamie, ich weiß, dass du sauer auf mich bist, und das akzeptiere ich, aber das hier ist wichtig. Ich kann mich überhaupt nicht an meinen Dad erinnern, aber ich möchte so gerne wenigstens ein bisschen über ihn wissen, und dazu brauche ich deine Hilfe. Hilfst du mir – bitte?«
Klar, ursprünglich habe ich das Thema angeschnitten, um Jamie dazu zu bringen, überhaupt wieder mit mir zu reden (was ja auch ansatzweise funktioniert hat), aber das mit meinem Dad ist natürlich auch nicht gelogen. Vielleicht kann ich also gewissermaßen das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.
»Mal sehen.« Jamie zuckt die Achseln, bevor sie sich wieder unserer Aufgabe zuwendet.
»Danke«, flüstere ich ihr über unsere beiden Tische hinweg zu.
Den Rest der Stunde behandelt sie mich wie Luft.
21
Es ist schon fast Schlafenszeit, und meine Mom ist immer noch auf Hausbesichtigung. Obwohl ich wütend auf sie bin, weil sie mich jahrelang angelogen hat, tut es mir leid, dass sie so spät noch arbeiten muss.
Im Schlafanzug, das Gesicht gewaschen, die Zähne geputzt, hole ich den Umschlag aus meiner Schreibtischschublade. Die Lasche fällt schon fast ab, weil ich ihn so oft geöffnet habe.
Ich weiß, dass ich den Umschlag vor ungefähr dreieinhalb Monaten bei meiner Mutter im Schrank gefunden habe. Ich weiß auch, dass ich damit bislang nichts weiter gemacht habe, als mir tagtäglich den Inhalt anzuschauen.
Ich schütte die Fotos und Grußkarten auf meiner Tagesdecke aus und betrachte sie einzeln. Urlaubsbilder, Schnappschüsse aus unserem Garten, Familienfotos. Wir sehen glücklich aus. Während ich das Gesicht meines Dads betrachte, kommt mir wieder die einzige Erinnerung in den Kopf, die ich von ihm habe – und die mich einfach nicht loslässt.
Ich habe keine Ahnung, was ich dort mache, mitten zwischen Dutzenden von Trauergästen.
Der breitschultrige Kahlkopf unterdrückt mühsam seine Tränen, ein junger Mann mit Achtziger-Frisur schluchzt hemmungslos. Meine Großmutter, durchnässt vom Regen, kann sich kaum aufrecht halten. Neben mir steht meine Mutter und weint still vor sich hin. Sie sieht so jung aus, so … verletzlich. Die Frau im tief ausgeschnittenen Kleid versucht mühsam, Haltung zu bewahren, wahrscheinlich dem kleinen Jungen zuliebe, der vor ihr steht. Fußabdrücke bedecken den schlammigen Pfad. Eine Spur der Trauer. Sogar der steinerne Engel links von mir scheint um den unbekannten Verstorbenen zu weinen.
Ich schnappe mir meinen Schreibblock und lese nach, was ich mir bisher über die Erinnerung notiert habe. Eine Zeitlang war ich offenbar davon überzeugt, es wäre die Beerdigung meines Vaters. Inzwischen kann ich über diesen Irrtum nur den Kopf schütteln, weil ich mich nämlich genau daran erinnere, wie er später noch zur Trauergemeinde dazustößt. Wie er ganz hinten am Rand stehen bleibt – weit weg von meiner und seiner Mutter – und sichtlich mit seinen
Weitere Kostenlose Bücher