Forgotten
Gefühlen kämpft, während der Priester Worte sagt, die ich nicht hören kann.
Ich erinnere mich auch daran, wie ich mich zwinge, wegzusehen, und wie mir dabei der Friedhofswärter auffällt, der uns aus der Ferne beobachtet. Mich beobachtet.
Er steht vor einem Geräteschuppen, der als Mausoleum getarnt ist, und lächelt. Es ist kein Lächeln aus Freude, sondern eins, das man aufsetzt, wenn man jemanden trösten möchte und nicht weiß, wie man es sonst machen soll.
Wahrscheinlich meint er es nur gut, aber in diesem Moment hasse ich ihn. Ich hasse dieses Lächeln. Ich will zu ihm hinrennen und ihn treten, aber das tue ich nicht. Stattdessen starre ich ihn bloß an, bis er irgendwann seine Zigarettenkippe auf den Boden wirft und im Schuppen verschwindet.
Die Beerdigung ist vorbei, und mein Vater ist weg.
Meine Großmutter ist weg.
Alle sind weg.
Und noch immer schaue ich, als ich mich umdrehe, um meiner Mutter zu folgen, nicht auf das Grab. Sosehr ich auch versuche, mich daran zu erinnern, wie es aussieht – es geht einfach nicht. Irgendwo tief in meinem Innern sträube ich mich dagegen. Ich will mich nicht erinnern, wer in dem Grab liegen wird.
Wie von selbst wandern meine Gedanken zu Luke. Was, wenn er es ist?
Aber ich verwerfe die Möglichkeit sofort wieder.
Nein, das kann nicht sein. Warum sollte mein Vater nach jahrelanger Funkstille auf der Beerdigung meines Freundes auftauchen? Das macht keinen Sinn.
Luke ist es also nicht.
Und trotzdem tritt, während ich durch mein spiralgebundenes Ersatzgedächtnis blättere, eine Wahrheit ganz deutlich zutage: Meine dunkelste Erinnerung ist genau zur gleichen Zeit in meinem Leben aufgetaucht wie er.
Erschöpft von meinem langen Tag und dem Gedanken an das Kommende, der schwer auf mir lastet, schiebe ich die Fotos und Karten zu einem Stapel zusammen und stecke sie zurück in den Umschlag. Ich schließe die Lasche, befestige die Messingklammern und verstecke ihn wieder in meiner Schreibtischschublade. Dann lege ich meine Aufzeichnungen für morgen auf meinem Nachttisch zurecht.
In die Bettdecke gekuschelt, überfliege ich sie noch mal, um mich zu vergewissern, dass ich nichts Wichtiges vergessen habe. Ich ergänze ein paar Details zur Beerdigungs-Erinnerung und füge ganz am Schluss noch eine Frage hinzu: Was hat Luke damit zu tun?
Ich höre, wie draußen das Garagentor hochfährt; meine Mom ist da. Statt zu warten, damit ich ihr noch gute Nacht sagen kann, lege ich die Aufzeichnungen zurück auf den Nachttisch, knipse das Licht aus und drehe mich mit dem Gesicht zur Wand.
Zwei Fragen schießen in meinem Kopf hin und her wie ein Tennisball, den die Spieler übers Netz dreschen:
Wieso kann ich mich nicht an Luke erinnern?
Wessen Beerdigung ist es?
Ich verfolge das Match mit geschlossenen Augen, als meine Mom vorsichtig meine Zimmertür öffnet und kaum hörbar flüstert: »Gute Nacht, meine süße London. Schlaf schön.«
Ihre Worte sind wie ein Schlaftrunk; ich bin auf der Stelle ganz ruhig.
Kurz danach gehen die Spieler vom Platz.
Das Match wurde unterbrochen.
Das Ergebnis steht noch aus.
22
Während ich allein von der Umkleide zur Sporthalle gehe, verfluche ich die Tatsache, dass heute Donnerstag ist. Donnerstage sind an unserer Schule ungerade Blocktage, und das bedeutet, dass ich alle meistgehassten Fächer als Doppelstunde habe.
Kein Luke, um mich aufzuheitern.
Aber wenigstens auch keine Jamie mit ihrem eisigen Schweigen und ihren hasserfüllten Blicken.
Ich zermartere mir wieder mal das Hirn darüber, was ich wegen Jamie unternehmen könnte, als ich die schwere Turnhallentür aufstemme und einen Fuß auf den spiegelblanken Hallenboden setze. Die Luft ist erfüllt vom Geräusch quietschender Turnschuhe, von Geschrei und Gelächter, und der Lärm lenkt mich ab, so dass ich den Anschlag gar nicht kommen sehe.
Bevor ich Zeit habe, beiseite zu springen oder mich auch nur zu erschrecken, werden meine Gedanken jäh durch den knallhart aufgepumpten Lederball unterbrochen, der mich mit Karacho rechts an der Schläfe trifft. Die Wucht des Aufpralls reißt mich zur Seite. Ich verliere das Gleichgewicht, meine Füße verheddern sich, und ich lege mich ohne auch nur den Anflug von Grazie der Länge nach hin.
Ein weithin hörbares »Uff« kommt aus meinem Mund, als ich mit der Hüfte zuerst auf den Boden aufschlage, unmittelbar gefolgt von Rippen und Kopf. In meinem rechten Ohr pfeift es, und mein Gesicht brennt und kribbelt. Ich taste mit der Hand
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