Forgotten
mich endlich wieder an das erinnern, was früher passiert ist, füge ich in Gedanken hinzu. Statt an die Sachen, die noch passieren werden .
»Ich glaube nicht, dass das so einfach ist.«
»Wieso nicht?«, frage ich angriffslustig.
»Weil wir damals bei vielen Ärzten waren, auch bei einem Neurologen. Weißt du, was das ist?«
»Ich bin nicht völlig bescheuert, Mutter.«
»London, langsam habe ich genug von deinem Ton. Ich wollte dir nur sagen, dass er eine Kernspintomographie von deinem Gehirn durchgeführt hat und dabei nichts Ungewöhnliches feststellen konnte. Er sagte, dein Gehirn sei organisch vollkommen in Ordnung. Es gibt keine ›kaputten Teile‹.«
»Wie auch immer«, sage ich wütend und frustriert, weil ich ständig nur in Sackgassen renne. »Ich hab keinen Hunger mehr.«
Damit schiebe ich meinen Stuhl zurück, knalle meinen Teller in die Spüle und lasse meine Mom alleine am Küchentisch sitzen, was mir schon nach dem ersten Schritt die Treppe rauf leidtut.
24
»Okay, los geht’s«, flüstere ich, obwohl ich eigentlich gar nicht flüstern müsste. Wir sind nämlich ganz allein in seinem Zimmer.
Auf Lukes Stereoanlage läuft ganz leise Musik, die Nachmittagssonne steht tief auf der anderen Seite des Hauses, so dass sein Zimmer in ein schummeriges Licht getaucht ist.
»Bist du dir ganz sicher, dass du es machen willst?«, raunt Luke, so dass sich die Härchen auf meinen Armen aufstellen.
»Ja«, sage ich wild entschlossen. Dann füge ich hinzu: »Glaub ich jedenfalls.«
»Es hat keine Eile. Wir können auch noch warten.«
»Nein, es muss heute sein«, sage ich im Befehlston.
Luke lacht und schnappt sich sein Handy.
»Also gut, los geht’s«, verkündet er.
Luke wählt die Nummer von Jamies Zettel, und ich kaue vor Aufregung auf dem rechten Zeigefingernagel. Ich stelle mir vor, wie es am anderen Ende erst einmal klingelt, dann zweimal, dann dreimal …
Luke setzt sich auf. Eine Sekunde später sackt er wieder in sich zusammen. Er schneidet eine Grimasse und legt auf.
»Falsche Nummer«, sagt er enttäuscht.
»War es der Anrufbeantworter von jemand anderem?«, frage ich nach.
»Nein, die Nummer ist nicht vergeben. Vielleicht war es früher mal die Nummer von deinem Dad – damals, als deine Eltern sich getrennt haben. Aber jetzt hat er offenbar eine neue.«
Aus der Küche dringen plötzlich Geräusche zu uns herauf. Instinktiv springen Luke und ich vom Bett und werfen uns auf die Sitzsäcke. Wir wissen – er aus Erfahrung und ich aus meinen Aufzeichnungen –, dass seine Mutter gerne mal, ohne anzuklopfen, ins Zimmer kommt. Meinen verschollenen Vater anzurufen mag an und für sich eine harmlose Freizeitbeschäftigung sein, aber wenn wir uns dabei auf Lukes Bett fläzen, könnte das unter Umständen Mrs Henrys Argwohn erregen – wie vermutlich jede Beschäftigung, der wir auf Lukes Bett nachgehen. Wie auch immer, wenn ich im Moment auf irgendwas garantiert keine Lust habe, dann auf die mütterliche Inquisition.
Gerade noch rechtzeitig schaltet Luke den Fernseher ein, und als seine Mom reinkommt, sieht sie uns gebannt einen Dokumentarfilm über Eislochfischen verfolgen. Sie will wissen, ob wir runterkommen und eine Kleinigkeit essen möchten. Luke sieht mich fragend an, und ich sage ja, weil wir in Bezug auf meinen Dad im Augenblick ohnehin nichts weiter tun können.
Nach einer Portion Nachos machen wir es uns auf der riesigen Couch im Wohnzimmer bequem und genießen das Unterhaltungsprogramm, das die beiden kleinen Zwillingsschwestern von Luke für uns aufführen. Ich weiß natürlich, dass ich sie nicht zum ersten Mal sehe, also versuche ich, mir mein fassungsloses Staunen über diese zwei völlig identisch aussehenden winzigen Kopien nicht anmerken zu lassen. Wie seltsam es sein muss, ständig sein eigenes lebendiges Spiegelbild um sich zu haben.
Lukes Schwestern spielen Verkleiden und ziehen sich jedes Kleidungsstück aus ihrer Kostümtruhe über, das irgendwie auf ihre kleinen Körper passt. Dann führen sie ein Theaterstück auf, in dem es um »Affen und Mommy und den Zoo« geht. Wir honorieren ihre Bemühungen mit Standing Ovations und erklären ihnen dann, was Standing Ovations überhaupt sind.
Als Nächstes steht ein Geschicklichkeitsspiel auf dem Programm, das »Alle Kuscheltiere in einer Reihe aufstellen« heißt. Geschäftig wie Ameisen, die Ärmchen voller Teddys, Elefanten und Giraffen, laufen die beiden zwischen ihrer Spielzeugkiste und der Mitte des
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