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Forgotten

Forgotten

Titel: Forgotten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cat Patrick
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Mr Henry uns zur Tür begleitet. Draußen atme ich tief die eiskalte Luft ein, und obwohl sie mir in der Lunge sticht, hilft sie ein bisschen. Luke hält mir die Beifahrertür des Vans auf und drückt mir einen Kuss auf die Wange, bevor er sie wieder zumacht.
    Wir schweigen die ganze Fahrt über, auch wenn Luke mir hin und wieder besorgte Blicke zuwirft. Als wir in unsere Einfahrt einbiegen, bietet er mir an, noch mit reinzukommen.
    »Danke, aber es geht schon«, sage ich. Ich will so schnell wie möglich ins Haus. Allein sein.
    »Ist denn deine Mom wenigstens da?«, fragt er und sieht mit zusammengekniffenen Augen zum hell erleuchteten Fenster unseres Esszimmers hinüber.
    »Bestimmt«, sage ich und füge noch ein mattes »Danke« hinzu, bevor ich, ohne ihm auch nur einen Abschiedskuss zu geben, die Wagentür zuschlage. So schnell ich kann, renne ich die Verandastufen rauf, damit Luke keine Gelegenheit bekommt, auszusteigen und mir zu folgen. Drinnen gehe ich sofort auf mein Zimmer, mache die Tür zu und lege mich vollständig angezogen ins Bett. Ich ziehe mir die Decke bis zum Kinn hoch, kneife die Augen fest zu und versuche, meinen flatternden Atem zu beruhigen. Ich lasse meine Gedanken los, die sofort zum verregneten Friedhof wandern. Ich fühle , dass ich da bin, mitten in einem Meer aus Schwarz.
    Aus meinen Aufzeichnungen weiß ich, dass mir diese Beerdigungs-Erinnerung schon seit einiger Zeit im Kopf rumspukt. Dass sie in den Tiefen meines Gedächtnisses immer weiter zu wachsen scheint und mich permanent daran erinnert, dass irgendwann jemand sterben wird.
    Jemand. Mehr wusste ich nicht. Bis heute Abend.
    Dann habe ich Lukes kleine Schwester in ihrem Papp­karton liegen sehen, und das hat etwas in mir ausgelöst, und auf einmal sehe ich es glasklar vor mir: das Grab zu meinen Fü­ßen, das ungewöhnlich klein ist und das einen winzigen Sarg verschluckt, in dem nur ein Kind liegen kann.
    Der »Jemand«, der sterben wird, ist ein Kind.
    Als wäre das nicht schon schlimm genug, trifft mich noch ein zweiter Gedanke wie ein Faustschlag in die Magengrube, und zwar so heftig, dass ich einen Augenblick lang nicht weiß, ob ich jemals wieder aufstehen kann.
    Die Erinnerung ist unscharf – sie liegt viele Jahre in der Zukunft –, aber ich weiß genau, dass ich irgendwann schwanger sein werde.
    Was, wenn es mein Kind ist?
    Auf einmal bekomme ich schreckliche Angst und fühle mich so allein, dass ich mir die Decke über den Kopf ziehe, weil ich einfach nicht weiß, was ich sonst machen soll.
    Meine Mom arbeitet; mein Dad hat sich aus meinem Leben verabschiedet. Der einzige Mensch, der mir im Moment wirklich etwas bedeutet, ist ein Junge, an den ich keinerlei Erinnerung habe. Und irgendwann in der Zukunft werde ich mein Kind beerdigen.
    Das ist einfach alles zu viel.

25
    Auf dem Weg zu Spanisch betrachte ich die Plakate für den Winterball morgen Abend, mit dem die Wände in sämtlichen Gängen zugepflastert sind. Ich weiß aus meinen Aufzeichnungen, dass ich mit Luke hingehen werde, einem Jungen, mit dem ich angeblich seit fast vier Monaten zusammen bin. Nachdem ich die letzte Stunde mit ihm verbracht habe, freue ich mich ungemein darauf.
    Ich bin nervös, aber ich freue mich.
    In Spanisch haben wir Vertretung – die Gelegenheit für Jamie, sich für die Ausspracheübungen, die wir machen sollen, eine andere Partnerin zu suchen. Aber muss es ausgerechnet Amber Valentine sein? Wie dem auch sei, mir bleibt nichts anderes übrig, als mich mit einer missmutigen Schülertutorin rumzuschlagen, die ihre Freistunde lieber ganz anders verbracht hätte. Ich weiß nicht genau, welche Voraussetzungen man erfüllen muss, um Tutor zu werden, aber man muss offenbar keine Ahnung von dem Vertretungsfach haben. Andis Akzent, wenn sie Spanisch spricht, ist nämlich noch schauderhafter als meiner.
    Der Strichliste auf meinem Notizblock zufolge hat sie jetzt schon zum siebzehnten Mal ob meiner Begriffsstutzigkeit mit den Augen gerollt. Meine Rache besteht darin, ihr nichts von dem Stück Salat zu sagen, das zwischen ihren oberen Schneide­zähnen steckt.
    Nach der Stunde beeile ich mich, um Jamie noch zu erwischen.
    »Hi«, sage ich, als sie bemerkt, dass jemand auf dem Weg zur Cafeteria neben ihr hergeht.
    »Hi«, sagt sie tonlos.
    »Wie geht’s dir?«, frage ich in der Hoffnung, sie versöhnlich zu stimmen.
    »Gut«, sagt sie noch ausdrucksloser – wenn das überhaupt geht. Offenbar ist heute nicht der Tag für eine

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