Forgotten
Schließfach.
»Tatsächlich? Und ich dachte, du willst keine Schlampe zur Freundin haben.«
»Jamie, das ist nicht fair.«
Jamie knallt die Tür ihres Schließfachs zu und dreht sich zu mir um. Ihre Augen sind kalt und leer.
»Stimmt, London. Ist es nicht«, sagt sie bitter und lässt mich stehen.
Röte schießt mir ins Gesicht, und ich bin so sauer, dass ich hinter ihr herrennen, sie packen und aus Leibeskräften schütteln will. Ihr alles ins Gesicht schleudern, was ich über ihre Zukunft weiß und sie nicht. Aber gerade in dem Moment klingelt es zum Unterrichtsbeginn, und wenn ich jetzt zu spät komme, weil ich Jamie nachjage, dann riskiere ich am Ende noch, dass ich bei ihrem Lover – ich meine Mr Rice – nachsitzen muss. Also hetze ich stattdessen zur Bibliothek.
Die Mason wirft mir einen strafenden Blick zu, weil ich zu spät komme, und Luke richtet sich erwartungsvoll auf, sobald ich mich auf dem Stuhl neben ihm fallen lasse. Aber irgendwas an meiner Körpersprache muss die beiden wohl gewarnt haben, denn sie lassen mich in Ruhe. Ich arbeite die ganze Stunde über an meinen Spanisch-Hausaufgaben und laufe nach dem Klingeln sofort weg. Ich spüre Lukes Enttäuschung, und Schuldgefühle machen sich in mir breit, bis ich mir die Aufzeichnungen von heute Morgen ins Gedächtnis rufe. Er hat mich geschlagene vier Monate lang belogen. Vier Monate . Er hat es verdient, ein bisschen zu zappeln.
Nach Mathe mache ich nicht den Umweg über mein Schließfach, sondern gehe direkt zu Spanisch, setze mich an meinen Platz und beobachte die Tür. Ich bin wild entschlossen, Jamie vor der Stunde zu konfrontieren, aber die Sekunden ticken vorbei, und ihr Platz bleibt leer. Es klingelt, und Jamie ist nicht gekommen.
Zehn Minuten später ist sie immer noch nicht aufgetaucht.
Irgendwann muss ich mich widerstrebend damit abfinden, dass sie entweder schwänzt, krank geworden ist oder irgendeinen Termin hat und dass es heute kein klärendes Gespräch mehr zwischen uns geben wird. Jamie hat wieder mal das letzte Wort gehabt, und es war kein versöhnliches. Meine Wut ist verraucht und hat Traurigkeit Platz gemacht. Meine beste Freundin hat mich abgeschrieben.
Und ich kann es sogar nachvollziehen, zumindest ein bisschen. Ich weiß, dass sie sauer auf mich ist, weil ich sie als Schlampe bezeichnet habe, und außerdem eifersüchtig ist wegen Luke. Ich verstehe, dass sie sich wünscht, ich würde ihren Freund akzeptieren – wenn man Mr Rice so nennen kann.
Aber deswegen tut es nicht weniger weh.
Mein ganzes Leben lang werde ich meine Gedanken und Gefühle mit Jamie teilen – nur jetzt nicht, wo ich sie am meisten brauche.
Sie sollte jetzt neben mir sitzen und mit mir Zettelchen austauschen, ob ich Luke verzeihen soll oder nicht. Sie sollte hier sein, damit ich ihr von meinem Dad erzählen kann. Sie sollte mich durch ihre bloße Anwesenheit von den schrecklichen Dingen ablenken, die irgendwann auf mich zukommen werden. Sie sollte mit mir zusammen diese dämlichen Ausspracheübungen machen!
Stattdessen bin ich ganz auf mich allein gestellt, und nicht nur bei den Ausspracheübungen. Bei allem. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, wird die Wunde von neuem aufreißen, so lange, bis Jamie sich dazu durchringt, mir zu verzeihen.
Dann wird alles wieder gut sein.
Zumindest sagt mir das meine Erinnerung.
30
Das Telefon klingelt zweimal, bevor Mom rangeht. Ich höre ihre gedämpfte Stimme aus der Küche, und eine Minute später wird leise an meine Tür geklopft.
»London, bist du schon wach?«, flüstert sie.
»Ja, Mom, du kannst reinkommen«, rufe ich von meinem Platz am Schreibtisch aus. Es wundert mich, dass sie mich nicht gehört hat. Ich bin schon seit Stunden auf.
»Da ist eine Frau für dich am Telefon.«
»Eine Frau? Komisch«, sage ich, bevor ich samt Stuhl durchs Zimmer bis zur Tür rolle, erst dort aufstehe und zum Telefontisch im Flur gehe. Ich nehme ab, warte aber, bis Mom zurück nach unten gegangen ist und den anderen Apparat aufgelegt hat.
»Ja?«, sage ich in den Hörer.
»London?«
»Ja, das bin ich. Wer ist denn da?« Ich wickle das Telefonkabel um meinen Zeigefinger.
»Hier ist Abby Brennan.«
Der Name sagt mir rein gar nichts.
»Du warst vor ein paar Monaten bei mir und hast dich nach deiner Großmutter erkundigt, Jo Lane?«
»Ach so, ja«, lüge ich hastig. Keine Ahnung, wovon sie spricht. Davon stand nichts in meinen Aufzeichnungen. »Wie geht es Ihnen?«
»Gut, danke«, sagt die Frau
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