Forgotten
freundlich. Ich höre ein Kind im Hintergrund, das ein Lied über Schlangen singt, die eine Parade besuchen. »Chelsea, mach bitte etwas leiser, Mommy telefoniert gerade. Entschuldige, London.«
Ich bekomme die Antwort des Kindes nicht mit, aber der Gesang bricht ab.
»Das macht doch nichts.«
»Also, weswegen ich anrufe – ich weiß jetzt den Namen des Altersheims, in dem deine Großmutter lebt. Das hat mich monatelang fast wahnsinnig gemacht, und diese Woche ist es mir endlich wieder eingefallen.«
Mein Magen stülpt sich um. Ich habe den ganzen Morgen in meinen Aufzeichnungen geblättert. Wie kann es sein, dass ich das übersehen habe?
»Wirklich?«, sage ich und bemühe mich, ruhig zu bleiben.
»Ja, es heißt Lingering Pines.«
»Super, danke«, antworte ich mit Roboterstimme, während sich in meinem Kopf die Gedanken überschlagen.
»Wie gesagt, ich wollte dir nur schnell Bescheid geben. Bestimmt musst du dich jetzt für die Schule fertigmachen. Wenn du mit ihr sprichst, richte ihr doch bitte aus, dass wir uns gut um ihr Haus kümmern. Und grüß sie ganz lieb von uns.«
»Mach ich«, sage ich mechanisch, bevor ich mich von der Frau verabschiede und auflege.
In der verbleibenden Dreiviertelstunde bevor ich zur Schule muss, ziehe ich mich an, lege ein bisschen Make-up auf und glätte mir sorgfältig die Haare, während ich darüber nachgrüble, was das gerade zu bedeuten hatte.
Irgendwie muss ich den Vornamen und die Adresse meiner Großmutter in Erfahrung gebracht haben. Dann bin ich offenbar bei ihrem Haus vorbeigefahren, in dem inzwischen diese Abby Brennan wohnt, weil Grandma vor einiger Zeit in ein Altersheim umgezogen ist.
Ein Altersheim mit dem Namen Lingering Pines.
So viel ist klar. Was ich nicht begreife, ist: Warum habe ich mir das nicht aufgeschrieben?
Während ich eine letzte Schicht Lipgloss auftrage, komme ich zu dem Schluss, dass ich wohl gedacht haben muss, bei meinen Nachforschungen über meine Großmutter in eine Sackgasse geraten zu sein, und dass ich deshalb nichts davon in meinen Notizen erwähnt habe, weil ich mich nicht an mein Scheitern erinnern wollte. Ich muss die Sache irgendwann zu den Akten gelegt haben.
Aber jetzt ist alles anders: Jetzt kenne ich den Namen des Altersheims, in dem meine Großmutter lebt. Wenn ich will, kann ich Kontakt zu ihr aufnehmen. Und sie wird mir bestimmt sagen können, wo Dad ist.
Ich sehe in den Spiegel und lächle mich an. Ich fühle mich stark. Nicht nur wegen dieser neuen Information, sondern auch wegen meiner perfekt geglätteten Haare, den langen dunklen Wimpern und der engen schwarzen Bluse.
Und Stärke ist gut, denn allem Anschein nach gibt es in meinem Leben einen Jungen, der begreifen muss, dass er mich nie, nie wieder belügen darf.
*
»Und was hat du heute noch so vor?«, fragt meine Mom am gleichen Abend beim Essen.
»Weiß noch nicht«, sage ich und vermeide es, ihr in die Augen zu sehen. »Fernsehen vielleicht.«
In Wirklichkeit kann ich es kaum abwarten, die Telefonnummer von Lingering Pines zu ergoogeln und mich zu vergewissern, dass meine Großmutter tatsächlich dort lebt. Danach – wer weiß?
»Es dürfte nicht allzu spät werden«, sagt meine Mom. »Es sind bloß zwei Häuser.«
Ich zucke die Achseln; von mir aus kann sie die ganze Nacht wegbleiben.
»Ich habe Popcorn gekauft.« Sie gibt sich Mühe – ein bisschen zu viel für meinen Geschmack.
»Danke.« Ich schiebe die letzten Erbsen auf die Gabel und wünsche mir, dass sie endlich geht. Oder wenigstens aufhört, mir beim Essen zuzusehen. Ich setze ein strahlendes Lächeln auf, das sie zum Glück besänftigt. Sie steht auf, küsst mich aufs Haar und schnappt sich ihre Schlüssel.
»Dann fahre ich jetzt mal. Gute Nacht, mein Schatz. Morgen machen wir was Schönes zusammen, nur wir beide, ja?« Sie steht an der Durchgangstür zur Garage und wartet auf meine Antwort.
»Hm, klar«, sage ich, damit sie endlich verschwindet. Sekunden später tut sie das auch.
Ich spüle hastig meinen Teller ab und stelle ihn in die Geschirrspülmaschine, bevor ich die Treppe hinaufrenne und meinen Computer aus dem Ruhezustand wecke. Es dauert keine Minute, und ich habe nicht nur die Telefonnummer von Lingering Pines gefunden, sondern mich darüber hinaus auch durch die halbe Fotogalerie mit Aufnahmen von großzügigen Räumlichkeiten, glückstrahlenden Bewohnern und gepflegten Außenanlagen geklickt. Obwohl mir klar ist, dass die Leute auf den Bildern höchstwahrscheinlich
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