Forgotten
Models sind, sehe ich mir trotzdem jedes ganz genau an, dann drucke ich mir die Homepage und einige Fotos als Gedächtnisstütze aus.
Ich bin ganz zittrig, als ich darüber nachdenke, was ich gleich tun werde. Ich lasse mein Handy aufschnappen und wähle die Nummer des Hauptanschlusses von Lingering Pines. Es tutet lange – ein einsames Geräusch. In Gedanken sehe ich ein uraltes Telefon vor mir, das irgendwo unbeachtet herumsteht und dessen schrilles Läuten im Lärm der zu laut aufgedrehten Fernseher untergeht, die aus den Zimmern der Bewohner schallen.
Kaum habe ich gedacht, »Jetzt nimm doch endlich jemand ab!«, als genau das passiert. Leider ist es bloß eine Stimme vom Band, die mich darüber aufklärt, dass ich außerhalb der Öffnungszeiten anrufe und es doch bitte morgen noch einmal versuchen soll. In Notfällen könne ich mich an die Pflegedienstleitung wenden.
Wie es aussieht, haben die Bewohner von Lingering Pines nur von acht Uhr früh bis fünf Uhr nachmittags Sprechzeit.
Da ich nicht das Gefühl habe, dass mein Anliegen weltbewegend genug ist, um eine Pflegerin damit zu behelligen, lege ich auf. Ich speichere die Nummer in meinem Telefonbuch und male mir einen kurzen Augenblick lang aus, wie es wohl wäre, eine Großmutter zu haben, die ich anrufen und besuchen kann.
Später, viele Jahre nach der Highschool, werde ich meine Kollegin Margaret um ihre innige Beziehung zu ihrer Großmutter beneiden. Ich werde mitweinen, als sie an Krebs stirbt – nicht weil ich sie besonders gut kenne, sondern weil ich mit ansehen muss, wie Margaret durch den Tod der freundlichen alten Dame ein kleines Stückchen von sich selbst verliert.
Da ich sonst nichts mehr zu tun habe, fahre ich den Rechner herunter, wasche mir den Tag aus dem Gesicht und gehe nach unten, um mir Popcorn zu machen und fernzusehen, genau wie ich es meiner Mutter gesagt habe.
In der Küche hole ich die Tüte mit den Maiskörnern und den kleinen Topf aus dem Schrank. Ich überfliege die Anweisungen auf der Verpackung, schütte Öl und Körner in den Topf und schalte den Herd ein. Das erste Korn platzt, dann das zweite, dann zwölf, zwanzig, fünfzig auf einmal. Ich konzentriere mich auf nichts anderes als auf die Zeit zwischen den einzelnen Maiskorn-Explosionen, damit mein kostbares Popcorn ja nicht anbrennt. Deshalb höre ich das Geräusch aus dem Eingangsflur zuerst gar nicht. Als ich schließlich doch stutzig werde und innehalte, um zu lauschen, frage ich mich, ob ich es mir vielleicht bloß eingebildet habe.
Aber dann kommt es wieder: ein zaghaftes Klopfen an der Haustür.
Kein Klingeln.
Ein Klopfen.
Mit dem Popcorntopf in der Hand werfe ich einen Blick auf die Uhr. Es kommt mir vor wie Mitternacht, dabei ist es erst zwei Minuten vor sieben, eine absolut akzeptable Zeit für einen Besuch an einem Freitagabend.
Nur dass ich keinen Besuch erwarte.
Sofort frage ich mich, ob meine Aufmachung heute in der Schule Wirkung gezeigt hat. Ist das Luke? Ich hoffe es inständig, obwohl ich immer noch gekränkt bin.
Ich stelle das Popcorn beiseite und renne aus der Küche. Wie ärgerlich, dass unsere Haustür kein Fenster hat.
»Wer ist da?«, rufe ich.
Schweigen. Ich frage mich, ob ich nicht besser Mom anrufen und sie bitten soll, nach Hause zu kommen. Vielleicht ist es doch nicht Luke.
Dann: »Ich bin’s, Luke.«
Ich atme tief ein und lasse noch eine Sekunde verstreichen, bevor ich die Tür aufmache.
Lukes Haare wehen im Winterwind, und seine Wangen sind von der Kälte gerötet. Er zieht kurz die Hand aus der Hosentasche, um mir ein stummes Hallo zuzuwinken, dann steckt er sie wieder zurück. Er wirkt verschüchtert und scheint nicht so recht zu wissen, was er sagen soll. Unsicher tritt er von einem Bein auf das andere, während ich die Tür ein Stück weiter aufmache.
Ich schlinge mir die Arme um den Leib, um die Kälte abzuwehren, was allerdings nicht viel nützt. Innerhalb kürzester Zeit fange ich an zu schlottern. Aber das ist mir egal.
Luke ist hier.
Er sieht sich um, und dann, völlig unerwartet, trifft mich der Blick seiner blauen Augen. In einem einzigen Moment hat er alle Distanz zwischen uns überwunden und schaut mir direkt in die Seele. Es ist mir viel zu nah, fast ein bisschen unangenehm, aber trotzdem würde ich um nichts in der Welt wegsehen wollen.
»Ist deine Mom da?«, fragt er mit einer Stimme, die zugleich sanft und fest klingt. Auf einmal bin ich ganz wacklig auf den Beinen und schlinge mir die Arme fester
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