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Forgotten

Forgotten

Titel: Forgotten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cat Patrick
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an ihn erinnern kann, weder aus meiner Vergangenheit noch aus meiner Zukunft.
    Ich seufze wohlig, ungefähr so wie Schneewittchen, bevor die ganze Geschichte mit dem Apfel passierte, und nehme mir den anderen Zettel vor, der heute Morgen auf dem Nachttisch lag. Er ist abgegriffen und fleckig, und ich frage mich, wie oft ich ihn wohl schon gelesen habe.
    Ich seufze noch mal, schüttle mir die Haare aus dem Gesicht, nehme einen großen Schluck von meinem Kaffee und fange an zu lesen.
    Immer mehr Tränen fallen auf das linierte Blatt in meiner Hand, während ein Alptraum zum Leben erwacht. Hastig tupfe ich sie auf, damit sie die Schrift nicht verwischen. Denn auch wenn sich in mir alles zusammenzieht und ich das lustige Gezwitscher der Vögel und überhaupt die ganze Welt auf einmal wie die Pest hasse, weiß ich, dass ich diesen Zettel heute lesen musste, genau wie ich ihn auch morgen wieder lesen muss.
    Denn Lesen ist für mich Erinnern.

37
    »Wird es irgendwann besser?«, frage ich meine Mom kläglich, die Hand am Türgriff. Wir stehen in der Haltezone vor der Schule. Meine Augen sind rot und verquollen vom Weinen.
    »Ach, London. Ich weiß es nicht«, sagt meine Mutter sanft und drückt meine Hand. »Für mich ist es nach all der Zeit nicht mehr ganz so schlimm, aber ich weiß nicht, wie es dir gehen wird. Für dich ist es jeden Tag neu.«
    Sie sieht mich gequält an. Ich antworte nicht. Sie macht den Mund auf, als gäbe es da noch mehr, das sie mir sagen möchte, von dem sie aber nicht weiß, ob ich es hören will. Schließlich überwindet sie sich.
    »Schatz, vielleicht solltest du dir überlegen, ob du den Zettel nicht lieber wegwerfen willst«, meint sie vorsichtig.
    »Nein!«
    »London, denk darüber nach. Jonas würde nicht wollen, dass du dich seinetwegen so quälst. Er hat nichts davon, dass du jeden Tag aufs Neue um ihn weinst.«
    »Woher willst du das wissen? Er war noch ein Baby!«
    »Ja – ein fröhliches Baby! Ein Baby, das die ganze Zeit Unsinn gemacht und dich zum Lachen gebracht und dich vergöttert hat. Ich kann dir noch mal die Videos zeigen, wenn du gerne möchtest.«
    »Wir haben Videos?«
    »Natürlich, London«, sagt Mom leise. »Wie auch immer, was ich sagen will, ist: Ich bin mir ganz sicher, dass seine kleine Seele nicht wollen würde, dass seine große Schwester so sehr leidet.«
    Ich lasse den Sicherheitsgurt aufschnappen und öffne die Tür.
    »Aber ich hab das Gefühl, dass ich mich an ihn erinnern muss , heute und immer wieder, jeden Tag. Das bin ich ihm schuldig.« Der letzte Satz ist ein Zitat aus meinen Aufzeichnungen, die ich am Morgen gelesen habe, aber er drückt meine Gefühle exakt aus.
    Meine Mutter seufzt. Hinter uns hupt es, und ich weiß, dass ich aussteigen muss. Ich muss zur Schule gehen und so tun, als wäre ein ganz normaler Tag.
    Mom dreht sich um und funkelt den ungeduldigen Fahrer drohend an, dann wendet sie sich wieder an mich. Ihre Hand liegt immer noch auf meiner.
    »Warum, London?«, sagt sie. »Warum bist du ihm das schuldig?«
    Ich ziehe meine Hand zurück, öffne die Tür und nehme meine Schultasche. Mit einem Bein auf der Straße sage ich zu meiner Mutter: »Weil ich am Leben bin und er nicht.«
    *
    »Ms Lane? Hallo, Ms Lane? Entschuldigung? Jemand zu Hause?«
    Ich schrecke auf und merke, dass alle Schüler sowie ein leicht erregter Mr Hoffman mich anstarren.
    Ich habe seine Frage komplett überhört, aber nach einem kurzen Blick auf die Tafel kann ich mir zusammenreimen, was er von mir wissen will.
    »Die erste Ableitung von f«, murmle ich, dankbar dafür, dass ich mich auch an die harmloseren Passagen meiner morgendlichen Aufzeichnungen erinnere, nicht bloß an die schrecklichen, die mich überhaupt erst vom Matheunterricht abgelenkt haben.
    »Sehr gut, Ms Lane, Sie können wieder wegdämmern«, sagt Mr Hoffman mit einem Augenzwinkern, mit dem er seiner Klasse zu verstehen geben will, dass er einer von der ganz lässigen Sorte ist.
    Der Arme. Es wird ihm nie gelingen.
    Das Mädchen mit den Pudellocken vor mir lehnt sich so weit in ihrem knarrenden, ausgesessenen Stuhl zurück, dass ihre Haare meinen Schreibblock streifen. Allerdings ver­decken sie nichts, weil ich ohnehin nicht mitschreibe. Mein Block und der Druckbleistift sind bloß Requisiten, genau wie der Rucksack im Fach unter meinem Sitz und die Schulbücher darin.
    Ich schiebe ihre Haare trotzdem beiseite, womit ich mir einen entrüsteten Blick einhandle. Demonstrativ fährt sie sich mit den

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