Forgotten
Fingern durch die Wallemähne.
Kurz darauf klingelt es.
Ich packe meine Sachen zusammen und gehe zur Tür, dann tauche ich in den Strom von Schülern ein, die von einer Stunde zur nächsten hetzen.
Als ich bei meinem Schließfach ankomme, sehe ich Jamie auf der anderen Seite des Ganges stehen. Ich halte meine Tür so, dass ich sie im Spiegel beobachten kann. Sie schiebt ein paar Bücher hin und her, dann stellt sie ihre Tasche auf den Boden und angelt sich eine Tube Lipgloss vom oberen Regal. Nachdem sie ihn sorgfältig aufgetragen hat, hievt sie sich die Tasche über die Schulter und wirft die Schließfachtür zu.
Dann dreht sie sich in meine Richtung um und zögert. Gerade als ich die Hoffnung hege, dass sie zu mir kommen und mich ansprechen wird, macht sie kehrt und verschwindet entschlossenen Schrittes den Gang hinunter. Erst als sie weg ist, schließe ich meine eigene Tür. Ich folge ihr im Abstand von zwanzig Schritt und wünsche mir nichts sehnlicher, als mit ihr Arm in Arm zu gehen wie früher.
*
Jamie beäugt mich argwöhnisch über unsere zusammengestellten Tische hinweg. Eigentlich sollen wir gemeinsam einen Reiseplan für einen imaginären zweiwöchigen Mexiko-Urlaub erarbeiten. Es ist pure Fleißarbeit, man muss so gut wie gar nicht nachdenken dabei, und normalerweise käme mir eine solche Aufgabe gerade recht. Später im Leben werde ich viel reisen, aber im Augenblick habe ich wirklich andere Dinge im Kopf.
»Was ist?«, zische ich sie giftig an. Ausnahmsweise habe ich keine Lust auf die Bettelnummer.
»Nichts«, sagt sie, überrascht über meine brüske Art.
Ich schnappe mir den Mexiko-Reiseführer und schlage ihn wahllos auf der Seite über die Isla Mujeres auf. Ich muss lachen. Ich kann mich genau daran erinnern, wie ich dort Urlaub mache. Mit Jamie zusammen – einer etwas älteren, aber immer noch umwerfend hübschen Jamie.
Ich überfliege die Hotelliste und stoße auf ein paar Fotos, bei deren Anblick ich mir vorkomme, als hätte ich ein Déjà-vu. Es ist ein Resort auf einer Privatinsel, umgeben vom blausten, klarsten Ozean, den man sich nur vorstellen kann. Die Farbe erinnert mich an Lukes Augen, wie sie mich heute Morgen während der Stillbeschäftigung angesehen haben.
Mein Lächeln wird noch breiter.
»Was ist so komisch?«, fragt Jamie schneidend.
»Nichts, das Hotel sieht einfach nur toll aus«, sage ich und drehe das Buch so, dass sie die Bilder sehen kann.
Ich frage mich, ob dies der Moment ist, in dem ich die Idee für unseren gemeinsamen Urlaub in meinem Bewusstsein pflanze. Und ich frage mich, ob ein kleiner Teil von mir sich noch an den heutigen Tag erinnern wird, wenn Jamie und ich tatsächlich nach Mexiko fliegen.
»Ganz okay«, meint Jamie achselzuckend und betrachtet mit missmutig verzogenem Gesicht die Fotos der Fünf-Sterne-Anlage. »Hab schon Besseres gesehen.«
Ich nehme das Buch wieder an mich und fange an zu arbeiten. Jamie sitzt ein paar Sekunden schweigend da, dann überrascht sie mich mit einer Frage.
»Geht’s dir gut?«
Ich sehe auf.
»Ja, alles okay, wieso?«
Sie schaut sich um, ob auch niemand zuhört, dann fragt sie: »Du siehst aus, als hättest du geheult.« Sie raunt es ganz leise, offenbar weil sie mich nicht vor den anderen bloßstellen will, und ich bin ihr dankbar für ihre Rücksichtnahme.
»Ja.« Ich zucke die Achseln. »In der letzten Zeit ist einiges passiert.«
»Ah«, macht Jamie und blickt dann in ihren Schoß. Einen Moment lang denke ich, dass meine Erinnerung mich trügt, dass es doch nicht noch mehrere Wochen dauern wird, bis wir uns wieder vertragen. Aber dann ist Jamies Mitgefühl ebenso schnell verflogen, wie es gekommen ist.
»Die Stunde ist schon halb rum. Gib her, ich mach’s fertig«, befiehlt sie und reißt mir das Buch aus der Hand. Sofort macht sie sich ans Werk und entwirft einen Plan für eine Reise, von der sie noch nicht weiß, dass sie sie eines Tages tatsächlich unternehmen wird … mit mir.
Ich sehe meiner besten Freundin beim Arbeiten zu und fühle mich seltsam gestärkt. Ich weiß genau, dass sie mich fragen möchte, was los ist. Dass es ihr nicht egal ist, wenn es mir schlecht geht. Dass sie mich vermisst.
Und das gibt mir Zuversicht.
Irgendwann – bald – werden wir wieder beste Freundinnen sein.
Aber vorher werde ich endlich diese Affäre beenden, die ihr nichts als Schmerz und Elend bringen wird.
38
»Wo fahren wir eigentlich hin?«, will Luke wissen.
»Fahr einfach«, befehle ich. »An
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