Forlorner (Salkurning Teil 1) (German Edition)
plötzlich in eine unbewegte Linie übergegangen waren, das hatte
er schon vor fünf Tagen abgetrennt; jetzt steckte es hier in seinem Notizbuch.
Seitdem hatte es keine weiteren Besonderheiten gegeben. Wenn sich hier
tatsächlich ein Schlund geöffnet hatte, dann war er längst wieder verschlossen.
Aber es war auf jeden Fall etwas dran an seinen
Beobachtungen. Er hatte nicht umsonst so viele Stunden während seiner
Reparaturrunden durchs Delta bei diesen vermuteten Übergängen verbracht. Er
schloss vorsorglich den Deckel über dem Gehäuse und merkte auf einmal, dass er
Kate mehr davon erzählen wollte. Jetzt, nachdem er das Fass sozusagen geöffnet
hatte.
„Ich hab beobachtet, dass Vögel sich im Bereich der
Treibsandfelder seltsam verhalten“, fing er an. „Es sieht so aus, als würden
sie darin die Orientierung verlieren. Zumindest die größeren. Krähen, die gegen
Baumstämme fliegen. Einmal ist eine Elster abgestürzt wie ein Stein, fast genau
vor meine Füße. Hat sich minutenlang nicht bewegt, ist dann weitergehüpft, ganz
langsam, wie benommen. Erst am Rand des Treibsandfeldes ist sie wieder
geflogen.“
Er sah zu ihr hinüber. Keine Reaktion. Schlief die
jetzt etwa?! Es war zum Verrücktwerden. Er präsentierte ihr hier ein
Experiment, das vielleicht das aufregendste Geheimnis der Welt berührte – und
sie legte sich in den Farn und schnarchte.
„Deshalb wollte ich noch mal hierher“, fuhr er etwas
lauter fort. „Um zu sehen, ob ich hier noch etwas finde – ob etwas verändert
ist. Ob noch irgendwas mit euch zusammen herübergekommen ist. Und da läuft
gerade eine fette Spinne über deinen Arm.“
Sie grinste, regte sich aber nicht. „Ich hör dir zu“,
sagte sie. „Und – hast du was gefunden?“
„Nein. Gar nichts.“ Und genau das trug er jetzt unter
dem Datum des einundzwanzigsten August 1756 in sein Heft ein. Direkt unter das
aufgeregte Gekritzel zum Thema Nulldichte vom sechzehnten August. Wenn dieses
Heft jemals einem aus Ghist in die Hand fiel, dann verbrachte er die
verbleibenden Jahre seines Lebens hinter Gittern. Das war mal sicher. Genau
genommen war es also gut, dass Kate ihn nicht gerade zum Reden ermunterte.
Die fünf Messpunkte hatte er Ende Oktober des letzten
Jahres eingerichtet, nachdem das verdammte Aufzeichnungsgerät endlich
zuverlässig arbeitete. Seitdem hatten die Nadeln fast fünfzig Papierrollen mit
ihren haarfeinen Kurven und Zacken beschrieben. Kurven, die die Existenz und
die unablässigen sachten, völlig unspektakulären Bewegungen eines Mediums
bezeugten, von dessen eigentlichem Wesen er nicht einmal eine Vorstellung
hatte. Und einmal nur, ein einziges Mal, hatte einer dieser zarten Stifte
plötzlich keine Fransenkurven mehr geschrieben, sondern für den Zeitraum von
sechzehn Minuten und achtundvierzig Sekunden nur einen geraden, fadendünnen
Strich auf der Nulllinie hinterlassen – weil es keine Bewegung mehr zu
verzeichnen gab. War es da wirklich geschehen, war das Fluidum aufgerissen wie
ein Nebel und hatte für diese sechzehn Minuten tatsächlich einen Durchschlupf
gelassen, durch den dann diese Leute herübergestolpert waren? Kam diese Frau da
wirklich aus dem legendären Gorth Britaine? Und wenn es so war, warum lag sie
jetzt da und döste in der Sonne, anstatt ihn mit Fragen zu bestürmen und alle
Hebel in Bewegung zu setzen, um wieder dorthin zurückzukehren?! Vielleicht
hatte sie ja auch gute Gründe, gar nicht mehr zurückzuwollen?!
Auch vier Tage nach dem denkwürdigen Dinner rumorten
die Zweifel noch wie eine Magenverstimmung in ihm.
„He – Kate!“
„Hm?“
„Wie kommt es, dass dich das alles hier gar nicht
besonders interessiert?“
„Es interessiert mich. Aber ehrlich gesagt – ich
versteh so wenig von dem, was du da alles ansprichst. Mir kannst du sonst was
erzählen, ich kann nicht beurteilen, ob es total verrückt ist oder vielleicht
sogar möglich sein könnte.“
„Und da verlegst du dich lieber aufs Schlafen.“
„Nein. Ich hör dir zu. Ich versuche – ein Gefühl für
das alles hier zu bekommen. Ich versuche – ähm, nicht zu denken. Es ist nichts,
was ich durch Denken kapieren könnte.“
Die Antwort überraschte ihn, vor allem, weil sie
ehrlich klang. War das auch die Erklärung dafür, dass sie in den vergangenen
Tagen all seinen Fragen ausgewichen war?
„Willst du überhaupt zurück?“
„Du hast gesagt, hier am Wokkentop geht es auf keinen
Fall zurück.“
„Und das kümmert dich gar nicht,
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