Formbar. Begabt
gelungen gewesen sein soll. Möglicherweise ging alles etwas rasch, aber im Allgemeinen klingt es doch positiv. Du willst ihn schon seit Monaten. Da ist das Tempo vertretbar. Gab es denn einen Gute-Nacht-Kuss, nachdem er dich heimgebracht hatte?«
»Dazu komme ich gleich. Er hat gefragt, ob wir noch etwas trinken wollen, was ich aber abgelehnt habe. Ich war einfach zu verwirrt, dass alles plötzlich so einfach sein soll. Und Denise' Erzählung über sein unerwartetes Schlussmachen war zu frisch in meiner Erinnerung. Ich wollte nicht genauso von ihm getäuscht werden, wie es augenscheinlich bei ihr der Fall war.«
Viv nickt verständnisvoll. »Klar. Finde ich gut, dass du dich nicht Hals über Kopf hineingestürzt hast!«
»Das glaubst du. Jan sah das anders. Er hat mich zur Haustür gebracht und wollte mich küssen.«
»Also, der ist wirklich schnell bei der Sache. Das traut man ihm gar nicht zu, wenn man ihn sieht. Aber stille Wasser sind bekanntlich tief. Was hast du gemacht?«
»Ich bin ihm ausgewichen, da ich in dem Moment komplett überfordert war und erst meine Gedanken sortieren wollte.«
»Verständlich!« Viv schaut mich mit auf die Seite gelegtem Kopf mitfühlend an. »Und ich vermute, dass ihn das in seiner männlichen Ehre verletzte und er dich dann an der Haustür stehen ließ. Liege ich richtig?«
»Du liegst komplett daneben. Als ob Jan so berechenbar wäre. Er hat mich festgehalten und zu einem Kuss gezwungen.«
Viv öffnet den Mund schließt ihn wieder, ohne dass irgendein Laut entsteht. Scheint, als müsste ich die Unterhaltung bestreiten, bis sie sich erholt hat.
»Er hat mich geküsst, bis ich fast umgekippt bin. Dann hat er mich wortlos stehen lassen. Ende der Geschichte.«
»Moment. Nochmals langsam und eins nach dem anderen. Du wolltest nicht, dass er dich küsst. Er hat dich festgehalten und gezwungen? Wie geht das denn?«
»Er hat meine Handgelenke umschlossen und mich gegen die Haustür gedrückt. Da gab es wenig Ausweichmöglichkeiten.«
»Während des gesamten Kusses?«
»Ja.«
»Das klingt... beängstigend. Oder?« Viv macht eine kurze Pause, bis sie einen Geistesblitz zu haben scheint. »Wieso hast du ihn dir nicht mit deiner Kraft vom Hals gehalten? Damit kannst du doch ziemlich alles bewirken.«
Peinliche Momente des Abends – Teil 2.
»Ich habe nicht daran gedacht.«
»Nicht dein Ernst. Er hat dich gezwungen! Das ist Nötigung! Und du hast nicht daran gedacht? Kannst du mir das erklären?«
Es wird immer schlimmer. Mittlerweile bin ich knallrot angelaufen und würde vor Scham am liebsten im Boden versinken. »Im ersten Moment war ich entsetzt. Und dann...«
Über Vivs Züge huscht die Erkenntnis. »Und dann fandest du es toll und wolltest gar nicht mehr, dass er dich loslässt. Stimmt's?«
Ich seufze. »Kann sein. Viv, ich weiß nicht, was da abgelaufen ist, aber meine Reaktion auf ihn war der Wahnsinn. Mit einem Mal war mein Gehirn komplett abgeschaltet, und als er auch noch mit der Zunge...«
Vivs Schrei unterbricht mich: »Was?!«
Nicht das erste Mal, dass sie das im Verlauf des Gespräches sagt. Sie muss ernsthaft erschüttert sein. Ansonsten wiederholt sie sich weniger oft. Verlegen lächelnd schaue ich auf den Boden und warte, bis sich Viv wieder beruhigt hat. Eigentlich sollte ich diejenige sein, die getröstet wird.
»Ich fasse zusammen: Er hat dich festgehalten, geküsst – mit Zunge – und dich schließlich stehen lassen?«
Ich nicke.
»Was für ein Arschloch. Was wirst du jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht. Dass er meine körperliche Reaktion so ausnutzen konnte, ist demütigend. Ich wollte wirklich nicht, dass er mich küsst. Als sich jedoch unsere Lippen berührten, fand ich es total anziehend.« Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen. »Keine Ahnung, wieso er weg ist. Er ist unberechenbar. Im ersten Moment höflich und zuvorkommend, im nächsten jähzornig und aggressiv. Als ob ich ihn absichtlich provoziert hätte!«
Vivs Antwort wird von der Klingel übertönt, die den Beginn der nächsten Stunde ankündigt. In Gedanken versunken trotten wir zu unserem Saal und lassen die weiteren Schulstunden über uns ergehen. In der nächsten Pause debattieren wir nochmals über mögliche Beweggründe, kommen aber zu keinem zufriedenstellenden Urteil.
Von Jan sehe ich den ganzen Tag über nichts. Dafür stoße ich nach Schulschluss fast mit Denise zusammen, die mich mit dünnen Lippen und zusammengezogenen Augenbrauen anfunkelt, dann jedoch wortlos an
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