Fortinbras ist entwischt
Wütend ging sie die Treppe hinunter. «Mrs. Darling», sagte sie, «wenn mein kleiner Sohn um Erlaubnis fragt, ob er ausgehen darf, so werden Sie bitte mir in Zukunft die Entscheidung überlassen.»
Mrs. Darling sah sie an und nickte. « Selbstverständlich , meine Liebe, wenn Ihnen soviel daran liegt. » Sie war äußerst einsichtsvoll und dachte offenbar, es sei doch bedauerlich, mit was für Komplexen die unteren Gesellschaftsschichten behaftet waren, aber leider mußte man darauf ja Rücksicht nehmen.
Die beiden Frauen maßen sich mit stummen Blicken. «Tun Sie nicht so verdammt herablassend», sagte May.
«Meine liebe Mrs. Pentecost, Sie sind wirklich ungerecht. Sie wären die letzte, die ich herablassend behandeln würde. Ich bewundere Sie aufrichtig.»
«Oh?» Alles in May sträubte sich heftig gegen dieses Besänftigungsmanöver, aber der Wind war ihr aus den Segeln genommen. «Sie... Sie scheinen mir nicht gerade zu Bewunderung zu neigen», sagte sie.
«Da haben Sie völlig recht. Ich finde tatsächlich wenig Bewundernswertes in unserer heutigen Zeit, aber wenn ich etwas finde, schätze ich es um so höher.» Sie schenkte May ein rasches strahlendes Lächeln, aber diesmal war es nicht wie ein Wetterleuchten, sondern wie ein wärmender Sonnenstrahl an einem grauen Tag. May dachte, vielleicht ist sie gar nicht so ein Drache, wie sie aussieht. Aber dann dachte sie: oder will sie mich nur milde stimmen, weil sie mir noch einen weiteren Gast aufhalsen will?
Gaylord und Hilda Twegg rannten den Hügelpfad entlang. Ein heftiger, trocknender Herbstwind wehte und wirbelte Blätter, Vögel und Wolken triumphierend in den Himmel. Ein paar Hunde sprangen herum, bellten und schnappten verspielt nach den Windstößen. Katzen mit zerzaustem Fell schlichen, den Bauch fast am Boden, irritiert und mit unruhig erhobenem Schwanz durch die Gegend. Schafe stemmten sich gegen die Böen und fielen fast zu Boden, wenn der Wind plötzlich nachließ. Die beiden auf dem Hügelpfad ergriff Lebenslust. Hilda Twegg sah zu Gaylord herunter und sagte lachend: «Komm, wir laufen um die Wette.»
Sie rannten, stolperten, atemlos vor Lachen. Dann ergriff Gaylord Mrs. Tweggs Hand, die warm, stark und freundlich war. Das ist wirklich die netteste Person, die ich kenne, dachte er. Seit seine hübsche Tante Becky ihm die Enttäuschung bereitet hatte, einen anderen zu heiraten, war er eigentlich fest entschlossen gewesen, für den Rest seines Lebens Junggeselle zu bleiben. Aber nun kamen ihm doch Zweifel. Bei näherer Betrachtung sprach vieles für eine Heirat mit Mrs. Twegg. Mit ihr würde er sicher großen Spaß haben.
«Sie kommen nie bis zum », hatte man ihm in Shepherds Warning gesagt. «Die Trent ist überschwemmt.»
«Unsinn», hatte Rufus Darling gesagt. Nach den Verkehrsfluten des Picadilly hatte die Trent keinen Schrecken mehr für ihn.
Eine Stunde später klingelte er an der Tür seiner Tante, während der Bauer, der ihn auf seinem Zugpferd mitgenommen hatte, heimritt.
Er klingelte zum zweitenmal. Keine Antwort. Noch einmal. Totenstille. Er überlegte, ob er den Bauern nicht besser zurückrufen sollte. Kein Zweifel, Tantchen war evakuiert worden.
Dann aber hörte er lautes Rufen. Vor einem großen Haus, ungefähr vierhundert Meter entfernt, stand ein alter Herr und schrie sich die Kehle aus dem Leibe. Er rief doch nicht etwa nach ihm? Dann sah Rufus, wie jemand eine weiße Fahne aus einem der oberen Fenster schwenkte. Und schließlich entdeckte er zwei Gestalten, die aus der Richtung dieses Hauses, so schnell sie nur konnten, auf ihn zugerannt kamen. Was bedeutete das alles? Offenbar war irgend etwas Schreckliches passiert. Er gab sich einen Ruck, ergriff seinen Koffer und eilte, zu allem bereit, den beiden entgegen.
«Was ist geschehen?» schrie er. Aber sie antworteten nicht, und als sie näher kamen, sah er zu seiner großen Erleichterung, daß sie fröhlich lachten. Ein blonder, schwarzäugiger, rotwangiger kleiner Junge und eine kräftige braungebrannte, freundlich aussehende Frau. Anfang Dreißig, dachte er.
«Sind Sie Mr. Darling?» fragte sie. Sie war völlig außer Atem und lachte immer noch. Er bemerkte ihre makellosen Zähne, ihre lustig blitzenden, gescheiten Augen und ihre vom Wind geröteten, reizenden Wangen. «Ja», sagte er. Das ist die netteste Person, dachte er, der ich seit meiner Ankunft in England begegnet bin.
«Sie sind doch der Herr vom Limpopo, nicht wahr?» sagte sie.
«Ja,
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