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Fortunas Odyssee (German Edition)

Fortunas Odyssee (German Edition)

Titel: Fortunas Odyssee (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliane Reinert
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Lehrerin hatte den Schülern immer wieder eingebläut, dass sie keine abgenutzten Bleistifte in ihrer Klasse dulde. Wenn sie zur Hälfte verbraucht seien, sollten sie weggeworfen werden. Zu dieser Zeit hatte Papa schon seinen Arbeitsplatz verloren und zu Hause wurde an allen Ecken und Enden gespart. Tim bat seine Mutter um einen neuen Bleistift, aber Mama meinte, er könne den alten noch eine gute Weile benutzen. Als die Lehrerin entdeckte, dass er sich ihrer Anordnung widersetzte, stellte sie ihn vor der ganzen Klasse bloß, indem sie ihn als »arm wie eine Kirchenmaus« bezeichnete. Er wurde allein auf den Flur geschickt und bog links ab zum Zimmer der Direktorin, die ihm zuerst eine Standpauke hielt und ihm anschließend einen neuen Bleistift gab. Er schämte sich, weil ihn die Mitschüler auslachten und weil er arm war, obwohl es den meisten von ihnen nicht besser ging. Als er in die Klasse zurückkam, wurde alles noch schlimmer, denn die Lehrerin hatte alle Aufgaben auf die Tafel geschrieben und sie hinterher abgewischt. Er musste sie also von einem Mitschüler abschreiben. Er saß neben einem Jungen, der es verabscheute, ein Bad zu nehmen, Mundgeruch hatte und nach Kuhstall roch. Ihm wurde übel, aber er schrieb die Aufgaben ab so schnell er konnte.
    Jetzt stand er wieder vor dieser Tür, einige Schritte von Roger Ray entfernt, aber ohne diesen verdammten Bleistiftstummel und die damit verbundene Demütigung. Er hatte diesmal etwas Besseres einzutauschen, nämlich ein Modellauto gegen ein Autogramm. Aber worauf würde Roger sein Autogramm geben?
    Er sah nach hinten und bemerkte, dass alle entweder ein Blatt Papier, eine Zeitschrift oder ein Heft dabeihatten. Er trug nichts anderes bei sich als seine Kleider, die zudem noch schmutzig und feucht waren.
    Der Türsteher musterte ihn von oben bis unten, als João die Hand seines Vaters nahm und sich vordrängelte.
    »Ich bin mit meinem Vater hier, er nicht. Lassen Sie uns vorbei.«
    Tim wollte etwas sagen, aber ihm fehlten zunächst die Worte. Das Blut wich aus seinem Gesicht und er sah aus wie eine Wachsfigur. Er berührte seine Medaille, während Genésio den Wärter herausfordernd anschaute.
    »Aber ich habe gewonnen. Sehen Sie meine Medaille«, brachte er schließlich heraus.
    Der Mann schaute auf die blinkende Medaille und ließ ihn eintreten.
    João schüttelte den Kopf wie jemand, der das alles nicht billigen konnte. Als Tim eintrat, saß Roger mit dem Rücken zu ihm. Eine Frau kämmte sein Haar und seine Mutter trocknete ihm die Stirn, während er die ganze Zeit einen Spiegel vor sein Gesicht hielt.
    »Fertig, mein Junge! Der Schweiß ist weg.«
    Tim stand weiterhin hinter ihm, wartete auf den magischen Augenblick und sah nur seine Augenbrauen im Spiegel.
    »Was will der Hanswurst?«, fragte Roger, als er im Spiegel einen unbeweglichen Jungen sah, der mager und schmutzig war und an eine Vogelscheuche erinnerte.
    Die Frau hörte auf, ihn zu kämmen und machte mit dem Kopf ein Zeichen, als wolle sie sagen: »Sag schnell, was du willst, und verzieh dich, Schmutzfink!«
    Er zog das Auto aus der Tasche und streckte seinen Arm aus. Alle drei schauten sich gegenseitig an und dann auf das rote glänzende Modell. In seiner Kinderseele vernahm er einen Schrei, dass die Zeit stehen bleiben möge, denn dieser Augenblick mit einem so wichtigen Menschen war einfach zu schön, um wahr zu sein.
    Die Frau nahm das Auto und Roger bedankte sich, ohne sich umzudrehen. Er ließ nicht einmal zu, dass dieser träumende Junge sein Gesicht sehen konnte.
    Als Tim sich räusperte, um etwas zu sagen, kam der Gorilla ins Zimmer, um ihn herauszubefördern.
    »Die Zeit ist um, Steppke!«
    Er wurde hinausgeschoben und hörte über den Lautsprecher, dass Roger Ray das Schauschwimmen mit den Siegern abgesagt habe, weil es ihm nicht gut gehe.
    João trat lächelnd ein, und Tim lief um das Schulgebäude herum bis an das Fenster des Direktorenzimmers. Er zog sich an der Brüstung hoch und konnte hineinsehen. Sein Auto war im Papierkorb gelandet, und er sah, wie João eine große reichlich verzierte Schachtel überreichte. Als Roger sie öffnete, strahlte er bis über beide Ohren und umarmte den Jungen. Dann zog er einen schwarzen Zylinder heraus und setzte ihn zum Spaß auf. Tim sah durch das Fenster viel mehr als einen weggeworfenen roten Ford. Er erkannte die Arroganz eines Mannes, den sie im ganzen Land zum Idol aufgebauscht hatten. Und er musste zugeben, dass João dasselbe erreicht hatte

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