Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fortunas Odyssee (German Edition)

Fortunas Odyssee (German Edition)

Titel: Fortunas Odyssee (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliane Reinert
Vom Netzwerk:
wie er, nämlich Roger Ray aus nächster Nähe zu sehen, mit dem Unterschied, dass Tim ihn niemals mehr zu Gesicht bekommen wollte.
    Er wischte sich die Tränen ab, stieg auf sein Fahrrad und fuhr nach Hause. Ab und zu wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen, seine Unterlippe stand nach vorn und sein Mund stieß ein Weinen hervor, das wie ein trauriges Lied klang - das Weinen eines enttäuschten Kindes.
    Als er ankam, ging er direkt ins Badezimmer. Tereza kam, um ihn zu beglückwünschen, und er tat so, als würde er nicht weinen.
    Mama kam, als er sich wieder angezogen hatte.
    »Komm, wir zeigen Papa deine Medaille.«
    Er antwortete nichts. Er war einfach zu enttäuscht.
    »Dummkopf«, rief ich, als er sich hinlegte, »geh hin und sprich mit ihm.« Es war natürlich umsonst, und ich hörte die Unterhaltung nebenan.
    »Ich glaube, er ist wütend, weil du nicht beim Wettbewerb zugeschaut hast.«
    »Ach, das gibt sich«, lächelte Papa.
    Leider war die Zeit grausam zu Tim. Er war einfach zu jung, um zu verstehen, dass wir die kostbare Zeit mit den Menschen, die wir lieben, auskosten müssen. Er meinte, er könne auch noch später mit Papa sprechen und ihm sagen, wie sehr er ihm an diesem Tag in der Schlange gefehlt habe, als die Eltern die Hände ihrer aufgeregten Kinder gehalten und ihnen Sicherheit vermittelt hatten. Außerdem würde er erzählen, wie groß die Enttäuschung war, die Roger Ray ihm bereitet hatte.
    Wie schade, Tim, wie schade… dazu ist es nicht mehr gekommen.
    Als Fred ins Zimmer trat, fiel ihm die Medaille auf, die auf dem Bett lag.
    »Was ist das denn?«
    »Eine Medaille, siehst du das nicht?«
    »Doch, aber ist das deine?«
    »Natürlich! Ich habe gewonnen.«
    »Hmm, Glückwunsch!« Er betrachtete die Trophäe.
    »Warum warst du denn nicht da?«
    »Chorprobe und danach Treffen mit dem Pfarrer.«
    »Und das war dir wichtiger, als bei meinem Sieg dabei zu sein?«
    »Nein, aber ich hätte nicht fehlen können, das weißt du. Das haben wir im Katechismusunterricht gelernt.«
    »Hättest du doch! Ich bin wichtiger als der blöde Chor, der Pfarrer und…«
    Er wurde von seinem wütenden Bruder unterbrochen.
    »Hör’ endlich auf! Es war nur ein Wettbewerb, sonst nichts.«
    »In diesem Wettbewerb habe ich die Goldmedaille gewonnen und unsere Schule vertreten!«
    Mama kam ins Zimmer und beendete den aufkeimenden Streit.
    Ich war überrascht über Tims Haltung und stolz auf ihn.
    Am nächsten Tag schleppte sich Papa durch das Haus, wobei er sich die rechte Seite des Unterleibs hielt und vor Schmerzen das Gesicht verzog, obwohl er das nur tat, wenn niemand in seiner Nähe war. Er übergab sich, und sein Fieber ließ sich auch nicht durch den Tee senken, den Tereza zubereitet hatte. Ich bemerkte den besorgten Blick, mit dem sie ihn beobachtete.
    Mama war zum Bahnhof gegangen, um eine Kiste mit bestickten Kleidern abzuschicken. Sie war traurig, als sie sah, dass sie ihr dieses Mal nur wenige Kleider zum Besticken geschickt hatten. Sie befürchtete, dass sie mit der Zeit immer weniger Arbeit haben würde und an Papas Ersparnisse herangehen müsste, die wegen des Vorfalls mit der Bordellbesitzerin ohnehin zusammengeschmolzen waren. Dieses Mal war nur eine Kiste gekommen, die so leicht war, dass sie hätte schwören können, sie sei leer.
    Nachdenklich ging sie nach Hause und hoffte, dass sich Papas Zustand bald bessern würde, damit er eine neue Arbeit suchen könne und somit alles wieder in geordnete Bahnen käme. Irgendetwas nahm ihr den Atem, und sie musste einige Male anhalten, um zu verschnaufen.
    Als sie schon vor der Haustür stand, wurde sie von Kita angesprochen, die sich über den Zustand ihres Mannes erkundigte und wissen wollte, ob in der Kiste neue Kleider zum Besticken waren.
    Sie reagierte gereizt, antwortete mit Schimpfworten und ging rasch ins Haus. Als sie die Kiste öffnete, war nur ein Kleid darin.
    Sie fragte Tereza, wie es Papa ginge. Sie sagte ihr, dass er sich mehrfach übergeben habe.
    Mama dachte eine Weile nach und entschied:
    »Wenn es ihm bis morgen nicht besser geht, rufe ich Aristeu.«
    Als Tim und Fred am nächsten Morgen in die Schule gingen, traf der Apotheker gerade ein. In der einen Hand trug er einen Edelstahlkoffer und in der anderen ein Stethoskop.
    Papas Haut war gelblich, und um seine Augen herum bildeten sich dunkle Flecken.
    Nach einer vierzigminütigen Untersuchung kamen Aristeu und Mama die Treppe herunter. Ich bemerkte, dass sich sein Gesichtsausdruck

Weitere Kostenlose Bücher