Fortunas Tochter
stützend, stol– pernd, bestürzt und beglückt angesichts des Unver– meidlichen, und gingen ohne recht zu wissen wie durch einen langen, halbdunklen Gang, stiegen eine kurze Treppe hinauf und standen auf einem Korridor, von dem die Garderoben abgingen. Der Name des Tenors stand in Kursivlettern an einer der Türen. Sie betraten den mit Mobiliar und verstaubten und verschwitzten Gewändern vollgestopften Raum, in dem sie zwei Tage zuvor zum erstenmal allein zusammengewesen waren. Er hatte keine Fenster, und einen Augenblick tauchten sie ein in den Schutz der Dunkelheit, wo sie den in Schluchzern und Seufzern verlorenen Atem zurückgewannen, während er ein Zündholz und dann die fünf Kerzen eines Kandelabers anzündete. In dem gelben Flackerlicht sahen sie sich an, verwirrt und töricht, von einem Sturzbach der Gefühle erfaßt, die nach Ausdruck verlangten, und doch vermochten sie kein Wort zu sprechen. Rose konnte seinem durchdringenden Blick nicht standhalten und verbarg das Gesicht in den Händen, aber er zog sie ihr sacht beiseite, mit der gleichen Zartheit, mit der er morgens seine Brezeln zerkrümelt hatte. Sie begannen sich verweinte Küßchen wie Taubenpicken auf das Gesicht zu geben, die ganz natürlich zu ernsthaften Küssen überleiteten. Rose hatte romantische, aber flüchtige Begegnungen mit einigen ihrer Bewerber gehabt, und einige von ihnen hatten ihre Wangen mit den Lippen gestreift, aber niemals hätte sie sich vorgestellt, daß man zu einem solchen Grad der Intimität gelangen könne - daß eine andere Zunge sich so mit der ihren verschlingen werde wie eine mutwillige Schlange und der fremde Speichel sie außen benetzen und innen durchfluten werde, aber der anfängliche Widerwille wurde bald von dem Drängen ihrer Jugend und ihrer Begeisterung für die Oper besiegt. Nicht nur, daß sie die Liebkosungen mit gleicher Inbrunst zurückgab, sie übernahm nun die Initiative, legte ihren Hut ab und das kleine graue Persianercape, das ihre Schultern bedeckte. Daß sie sich die Jacke aufknöpfen ließ und dann die Bluse, verstand sich schon von selbst. Das junge Mädchen wußte Schritt für Schritt dem Tanz der Vereinigung zu folgen, geleitet vom Instinkt und der hitzigen Lektüre verbotener Bücher, die sie verstohlen aus den Bücherregalen ihres Vaters entwendet hatte. Dies war der denkwürdigste Tag ihres Lebens, und sie würde in den kommenden Jahren noch die geringsten Kleinigkeiten, ausgeschmückt und überhöht, im Gedächtnis parat halten. Es sollte ihre einzige Quelle sein, aus der sie Erfahrung und Wissen schöpfte, der einzige Antrieb, aus dem sie ihre Phantasien nährte und Jahre später die geheime Kunst schuf, die sie in bestimmten Kreisen berühmt machte. Dieser wunderbare Tag konnte an Stärke nur mit jenem Märzmorgen zwei Jahre später in Valparaíso verglichen werden, als sie die neugeborene Eliza in die Arme nahm als Trost für die Kinder, die sie nicht haben, für die Männer, die sie nicht lieben, und für das Heim, das sie nie gründen würde.
Der Wiener Tenor erwies sich als erfahrener Liebhaber.
Er liebte und kannte die Frauen von Grund auf, aber er war fähig, die vielfältigen Liebschaften der Vergangenheit aus der Erinnerung zu löschen, die Ernüchterung zahl– reicher Abschiede, die Eifersüchteleien, Ausschweif– ungen, Lügen und Täuschungen anderer Beziehungen, um sich in völliger Unschuld der kurzen Leidenschaft für Rose Sommers auszuliefern. Seine Erfahrung rührte nicht aus kläglichen Umarmungen mit billigen Huren; Bretzner war stolz darauf, daß er nie für das Vergnügen hatte bezahlen müssen, Frauen aller Schattierungen, von hochmütigen Stubenmädchen bis zu bescheidenen Komtessen, gaben sich ihm bedingungslos hin, wenn sie ihn singen gehört hatten. Er lernte die Künste der Liebe zur gleichen Zeit, wie er die des Gesanges lernte. Zehn Jahre zählte er, als sich die Frau in ihn verliebte, die seine Mentorin werden sollte, eine Französin mit den Augen eines Tigers und Brüsten aus purem Alabaster und alt genug, daß sie seine Mutter hätte sein können. Sie selbst war mit dreizehn Jahren in Frankreich durch Donatien- Alphonse-Franςois de Sade eingeweiht worden. Als Tochter eines Kerkermeisters der Bastille hatte sie den berühmten Marquis in einer schmutzigen Zelle kennengelernt, wo er beim Schein einer Kerze seine perversen Geschichten schrieb. Sie beobachtete ihn gern aus reiner kindlicher Neugier durch das Guckloch in der Tür, ohne zu ahnen, daß
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