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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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durch den Körper nach außen. Die Kräuter sind gut gegen Insekten und gut gegen Schwäche, sie machen die Augen klar, entgiften und können viele Wehwehchen kurieren. Man kann einfach ein paar von ihnen herausreißen, sie zusammenpacken und sie zu einem Brei verreiben, damit bestreicht man den Mund, die Nase, die Ohren, die Achseln, den After, sie können schlechtes und trübes und entzündetes Qi austreiben, und kein Gewürm kann eindringen. Heute esse ich oft tagelang überhaupt nichts und schlafe in meiner Gruft. Und wenn ich etwas esse, dann nichts Gekochtes. Ich habe noch fünf Zähne, ich kann an einem Tag zwei Handvoll Reis langsam zu Brei zermummeln und ein bisschen davon auch schlucken, das reicht mir. In der Gruft ist es sehr dunkel, wenn mir irgendwelches Gewürm in den Mund krabbelt, dann behalte ich es drin. Der Geschmack von Regenwürmern zum Beispiel ist sehr gut, aber Schlangen und Skorpione wagen sich nicht an mich heran.
    Menschen sind ihnen zu giftig, sie sind viel giftiger als Schlangen und Skorpione. Vor allem der heutige Mensch – früher hat er den Klassenkampf mit der Muttermilch eingesogen, heute ist es die Karriere und das große Geld, mit den Fünf Giften [45] kennen sie sich aus, und Verwandte kennen sie keine mehr.

Der Mönch
    An einem sonnigen Frühlingsnachmittag 2003 machte ich mit meinem Freund Wang Haiwen eine Tour in die etwa 60 Kilometer von Chengdu entfernten Fengxi-Berge. Dort fühlten wir uns von einem tief im Wald verborgenen und 1000  Jahre alten buddhistischen Tempel, der auf die Sui-Zeit [46] zurückgeht, unwiderstehlich angezogen.
    Der Guangyan-Tempel, der gemeinhin nur »der Alte Tempel« heißt, ist gegen den Berg gebaut und teilt sich in einen oberen und einen unteren Teil. Die Aktivitäten der Gläubigen konzentrierten sich vor allem auf den unteren Teil mit seiner ausladenden Halle und seinem verschwenderisch brennenden Räucherwerk, doch die Geist- und Körperseele der buddhistischen Lehre findet sich im einsamen und von Ödgras bedeckten oberen Teil mit seinen geborstenen Säulen und zerfallenen Pagoden.
    In der Abendstunde gingen wir voller Bedauern zurück, es dämmerte bereits, und als ich widerstrebend durch das Tor trat, hörte ich von Deng Kuan, einem 103  Jahre alten Mönch. Er war der Achte in der langen Reihe ehrwürdiger Meister und Tempelvorsteher seit dem Yongle-Kaiser der Ming-Dynastie, also seit über 600  Jahren.
    Der alte Herr hatte sich in Chengdu einer ärztlichen Behandlung unterzogen und war nicht mehr zurückgekehrt. Doch aus irgendeinem inneren Impuls heraus kam ich immer wieder hierher und allmählich konnte ich die Aufzeichnungen über den alten Tempel auswendig.
    Am Nachmittag des 18 . Septembers 2003 begleitete ich einen französischen Fotografen hierher, es war das fünfte Mal, dass ich den alten Tempel besuchte, und wir machten viele Fotos, in denen Mensch und Landschaft eine harmonische Verbindung eingingen und die er in einer französischen Übersetzung meiner »Aufzeichnungen chinesischer Justizverbrechen« verwenden wollte. Doch die Vorsehung wirkt ganz im Stillen – wir machten uns schon für den Aufbruch fertig, als wir Chen Quan, dem Neffen des Mönchs Deng Kuan, über den Weg liefen. Ich fragte ihn ganz nebenbei: »Ist denn Deng Kuan da?«
    Und er antwortete: »Ja.«
    Hocherfreut, denn das hatte ich nicht erwartet, folgten wir dem Laienbruder Chen Quan in eine einfache Mönchszelle im Hof »der vier Lehren«. Dort sprachen wir bei Deng Kuan vor, der auf einem Sofa saß und fernsah. Er trug eine Wollmütze auf dem Kopf, kleine Augen, durchschnittliche Statur. Wegen seines Alters fürchtete er die Kälte und benutzte zusätzlich einen Elektroheizer.
    Nachdem er uns die Hand aufgelegt und gesegnet hatte, verknipste mein französischer Freund hastig ein paar Rollen Film. Deng Kuan war schwerhörig, wenn man eine Frage stellte, musste man ganz dicht an sein Ohr und schreien, weshalb wir bei unserem ersten Gespräch die »Übersetzung« und die Erklärungen von Chen Quan benötigten. Nach über einer Woche wurde ich noch einmal vorstellig, und weil er mein Gesicht schon kannte, achtete er nicht mehr auf die Etikette.
    Während ich ihm meine Fragen immer wieder ins Ohr schrie, erzählte Deng Kuan mir Stück für Stück seine Lebensgeschichte, dabei rauchte er zwei gerollte Tabakblätter und schlürfte Milch. Ich mochte das, die sonnengetrockneten Tabakblätter, das Abstreifen der Asche, dieser alte Herr vom Land hatte fast

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