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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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neu.
    Die Schule kümmerte mich immer weniger, und ich hatte längst begriffen, dass ich nichts taugte. Mir war die Lust daran vergangen, Dinge zu lernen, die ich so, wie sie mir vermittelt wurden, nicht verstand.
    Im Deutschunterricht der Sekundarschule zum Beispiel mussten wir die Odyssee lesen – wir waren dreizehn. Das Buch langweilte mich, und ich verstand diese verschachtelte Sprache gar nicht. Immer neue Fremdwörter verhinderten, dass ich in meinem Kopf die Kulisse aufbauen konnte, vor der sich die Geschichte abspielen sollte. Ich las einen Satz und vergaß ihn sofort wieder. Das einzige Bild, das mir aus diesem Buch geblieben ist, ist ein Segelschiff vor Anker in einer von aufragenden Felsen umschlossenen Bucht. Am Mittelmasten auf dem Schiffsdeck liegt ein Mann in Ketten, hat die Augen verbunden und schreit.
    Statt der Odyssee las ich bis Mitternacht in Emily Brontës Sturmhöhe  – ein Buch voller Bilder, die ich noch heute in meinem Gedächtnis aufrufen kann, als hätte ich das Buch selbst verfilmt.
    Es war noch Probezeit, und nun sollte ich im Unterricht nacherzählen, was bei der Odyssee in dem Kapitel, das zu lesen uns als Hausaufgabe aufgegeben worden war, geschehen war. Ich hatte es nicht gelesen und konnte daher diese Frage nicht beantworten. Da verkündete die Lehrerin der Klasse, dass ich die Probezeit sowieso nie bestehen würde.
    Sie sollte recht behalten. Ich bestand nicht und musste die Schule wechseln.
    Es gab nur eine Schule in der Stadt Zürich, die eine »Übergangsklasse« anbot. Das war ein milderer Begriff für die Wiederholung der sechsten Klasse.
    Mit meinem Skateboard, einer neonorangenen Hose, einem schwarzen T-Shirt und einer Mütze von der Marke Stüssy fuhr ich zu einem Informationsnachmittag der Schule in die Stadt. Als jeder von uns sich den anderen Schülern vorstellen musste und seinen Namen sagen sollte, drehten sich alle ungläubig nach mir um. So wie ich aussah und so cool, wie ich mich gab, hatten wohl alle erwartet, dass ich mich als Tom vorstellte.
    Jeden Morgen fuhr ich nun mit der Bahn nach Zürich. Die Ticket-Kontrolleure beäugten mich misstrauisch, weil sie auf meinem Ausweis den Namen »Louise« lasen.
    Einmal rief die Bahnhofspolizei sogar zu Hause an, weil die Beamten glaubten, ich würde sie veräppeln.
    »Hier steht jemand, der sich als Louise Jacobs ausgibt – ist das Ihr Sohn?«
    Auf die Personenbeschreibung antwortete meine Mutter, ich sei ein Mädchen und sie könne die Angaben im Ausweis bestätigen.
    Saß ich mit meinem Bruder in einem Restaurant und der Kellner kam, fragte er: »Na, Jungs, was wollt ihr trinken?«
    In der Mädchentoilette auf der Skihütte riefen die Mädchen manchmal erschrocken: »Iih, ein Junge!« Oder sie guckten einfach nur blöd, wenn ich die Tür zur Damentoilette öffnete.
    Im Zug diskutierten andere Jugendliche, ob ich ein Mädchen oder ein Junge sei, und konnten sich nicht einig werden. Da war ich fünfzehn. Aber mir war’s recht. Keiner sollte mich erkennen.

    Mit vierzehn fuhr ich immer noch mit dem Skateboard zur Schule und zur Therapie. Das gab mir mehr als alles andere das Gefühl: Ihr könnt mich mal. Ich war permanent so schlechter Laune, dass mir die Lehrer androhten, mich wegen Unverschämtheit zu verwarnen. Ich war wütend auf alles und umgeben von Menschen, die nur das Beste für mich wollten.
    Auf der Autofahrt zu Frau Bernegger starb ich tausend Tode und zählte die Markierungen am Straßenrand, die ich mir gesetzt hatte, um die Distanz zwischen mir und Frau Bernegger abschätzen zu können: »Das Autohaus: noch zwanzig Minuten. Die Tankstelle: noch fünfzehn Minuten. Die Tanne, die größer ist als der Kirchturm, vor dem sie steht: noch sieben Minuten. Die Abzweigung nach links, wo es am Weinberg entlanggeht: noch fünf Minuten. Der Kreisverkehr: drei Minuten. Blinker links: eine Minute. Und dann musste ich den Klingelknopf drücken.
    »Louise, wie geht es dir denn heute?«
    Beschissen ging’s mir. Glaubte diese Frau wirklich, ich würde ihr ins Gesicht sagen, wie sehr ich diesen Sitz-Gummiball und das Kiefernholz in ihrer Praxis hasste? Und wie sie mich, kaum hatte ich mich gesetzt, fragte: »Louise, wie viele Freunde hast du denn jetzt schon in der Schule?« Ich fühlte die Enge der Zwangsjacke. Sie wollte alles über mich wissen, sie testete mich anhand ihres verinnerlichten Legasthenikerrasters durch und suchte nach Übereinstimmungen, mit denen sie mich würde entschlüsseln können. Hinweise, die

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