Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
Düfte, die leichten Winde, die vielen Stimmen der wiedererweckten Natur – alles wollte ich mit offenen Armen empfangen. Etwas ganz Neues begann sich in mir zu entfalten, köstliche Hoffnung wuchs in mir heran, endlich meinen Weg gefunden zu haben.
Ich dachte zurück an die bisherigen finsteren Schulzeiten, die zerronnenen Hoffnungen, eine gute Schülerin zu werden. Ich hatte keine Gefühle des Verlustes. Die letzten fünfzehn Jahre hatte ich in der falschen Welt gelebt, die falsche Sprache gesprochen und war mit falschen Maßeinheiten gemessen worden. Nun würde ich mich in die Staaten einschiffen und ein neues Leben in der Fremde beginnen.
Mit meinem Weggang nach Amerika wurde ein Traum wahr. Ich kam meinem ersehnten Cowboyland einen entscheidenden Schritt näher. Und für immer wahrscheinlicher hielt ich es, mich in den kommenden Jahren von allen gesellschaftlichen Konventionen freizuschwimmen und mein Leben so zu gestalten, wie es mir lag.
18
Ob wohl es erst halb sechs ist, ist es bereits dunkel. In der Küche lege ich eine CD ein und mache mir eine Schüssel Nudeln zum Abendessen. Nach dem Essen wickle ich mich in eine Wolldecke, ziehe mir eine Mütze auf und lege mich raus in die Hängematte. Ich schaue in den Himmel, an dem die Milchstraße deutlich zu sehen ist. Die Nacht ist stockdunkel, der Sternenhimmel leuchtet, das Firmament ist zerlöchert von eisgrauen, blauen und gelben Lichtern. Ich ziehe die Wolldecke enger um meine Schultern und starre in die Nacht. Da fällt dieser Stern vom Himmel. Er zieht einen Kometenschweif hinter sich her. Ich traue meinen Augen nicht und vergesse völlig, mir etwas zu wünschen. Krampfhaft versuche ich, mir im Nachhinein einen Wunsch zu überlegen. Als die Sternschnuppe erloschen ist, starre ich in den Himmel und warte sehnsüchtig auf eine Wiederholung, aber es kommt keine. Ich muss an all das denken, was ich zurückgelassen habe, an Dinge, von denen ich mich bedrängt fühle. Wie lange erlaubt mir mein Leben noch wegzurennen, immer nur an mich zu denken? Ich habe immer Mühe gehabt, den Ist-Zustand zu akzeptieren, ich stemmte mich mit aller Kraft gegen das Schicksal und habe diesen Kampf immer verloren. Hier liege ich nun und will diesen Zustand festhalten, möchte ihn umklammern. Warum?
Weil diese Nacht, diese Dunkelheit die einzige Harmonie ist, die ich ertrage. Da ist diese Getriebenheit in mir, eine Urangst, eingesperrt zu sein, festgehalten zu werden, nicht gehen zu können, wenn ich gehen will. Ich habe diesen Traum von der Freiheit, und manchmal fürchte ich, dass etwas passiert, was es unmöglich macht, diesen Traum zu leben. Die Kälte kriecht unter meine Decke, und Tropfen von Feuchtigkeit bilden sich auf der Wolle. Ich richte mich auf und schaukle noch eine Weile sitzend hin und her.
Mir fällt der Wunsch nach einigem Nachdenken doch noch ein. Ich flüstere ihn in die dunkle Nacht hinaus.
Ich schlüpfe in meine gefütterten Reitstiefeletten, nehme meine Handschuhe vom Fensterbrett, ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis unters Kinn hoch und gehe zum Stall. Ein glasklarer, eiskalter Morgen bricht an. Bäume und Gras sind unter Rauhreif erstarrt, das weiße Sonnenlicht dringt durch sich verziehende Nebelschwaden. Eine Stunde später sind die Umrisse der Wolken scharf, ihr Körper so plastisch wie frisch aufgeschlagene Sahne. Der Himmel scheint nicht groß genug, um ihre ganze Masse unterzubringen. Von weitem schon höre ich Francis singen. Ich gehe einen Schritt schneller.
»Guten Morgen!«, sage ich. Giovanni, der mit dem Hintern zum Stalltor steht, hebt seinen Kopf und bewegt seine Ohren in meine Richtung.
Francis singt: »When I gamble for love but it isn’t in the cards, oh what heartaches it can cost me …«, und bürstet Giovanni die Holzspäne aus dem dichten, schwarzen Schweif. Aus der Sattelkammer kriecht der Duft von frisch gewaschenen Satteldecken und geputztem Leder.
»So I’ll gamble for love just as long as I live till the day Lady Luck smiles down on me …«
Ich reibe Giovanni mit meinen Handflächen den Hals ab und lasse ihn an meiner Brust schnuppern.
»No, if you haven’t gambled for love in the moonlight, then you haven’t gambled at all …«
»Wollen wir ausreiten?«
»Mich brauchst du nicht zu fragen!«, sagt Francis mit einem kritischen Blick auf das vor sich hin dösende Pferd.
Wir satteln und zäumen Giovanni und Walther auf und reiten kurze Zeit später aus dem Stall. Weißer Atem wallt stoßweise aus den
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