Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
damals unvorstellbar fortschrittlich. Die Schüler hatten eigentlich kaum Kontakt mit dem Lehrer, die ganze Bildung lief online. Die Schule gab mit der schier unermesslichen Größe ihrer Bibliothek an, betonte ihren Sportsgeist und stand ebenfalls zur Schuluniform. Auch hier bot sich mir ein Bild junger Menschen, die gescheit wirkten, einfach weil sie in dieser Institution steckten und dort auch funktionierten.
Die vierte und letzte Schule war die Vermont Academy. Sie lag in einem kleinen Kaff irgendwo in den Wäldern Vermonts. Die wenigen Schulgebäude waren aus Klinker, die Wohnhäuser der Schüler bescheiden, Schuluniform gab es keine. Bei meinem Besuch schaute ich mir die Schüler an und fand sie irgendwie cool. Sie wirkten unkonventionell und ein wenig schräg. Die Jungs hatten zerzaustes Haar, Badelatschen an den Füßen, und sie trugen verwaschene Jeans. Die Mädchen schienen sportlich und natürlich. Ich mochte die verschlafene Stimmung auf Anhieb und glaubte, dass ich mich hier in den Wäldern, nur fünfzig Minuten entfernt von Birch Hill Farm, sehr wohl fühlen könnte – eigentlich fast wie zu Hause. Im Winter könnte ich Snowboard fahren, im Sommer reiten.
Ich wurde von allen vier Schulen angenommen und entschied mich für die Vermont Academy. Sie entsprach am wenigsten der Schweizer Hochkultur.
Meine Eltern versuchten über den Abschied, der ihnen von mir bevorstand, hinwegzusehen und waren sich einig, dass ich dort gut aufgehoben sei.
Ich durfte also nach Amerika, um mein Abitur zu machen. Mein innerer Drang, weiter nach diesem einen großen Traum, diesem Gefühl »hier kann ich ein Cowboy sein, hier gehöre ich hin« zu suchen, ließ nicht viel Platz für Wehmut. Dieses Ziel vor Augen, sah ich dem Tag, an dem ich das Schulgebäude in Zürich zum letzten Mal verlassen würde, hoffnungsvoll entgegen.
Ich konnte es nicht erwarten, dieses Leben hinter mir zu lassen und ein neues zu beginnen. Ich war fröhlicher und ließ mir erstmals im Leben freiwillig die Haare wachsen – so lang, dass ich Frisuren damit machen konnte. Ich saß an den Abenden und Sonntagen in meinem Zimmer, zeichnete und schrieb. Bald hingen meine Wände voll mit den Porträts irgendwelcher Menschen, die ich aus Zeitschriften und Fotobänden abgezeichnet hatte, ich las Camus und All the Pretty Horses von Cormac McCarthy, worin ich ein weiteres Alter Ego fand: Die Figur John Grady. Er war mein großes Vorbild. Er beschließt eines Tages, seine Sachen zu packen und gemeinsam mit einem Freund von San Antonio, Texas, nachts über den Rio Grande nach Mexiko zu reiten. Auch er hat einen Traum, und er lebt ihn bis zum bitteren Ende. Ich liebte diesen Kerl.
Ich hatte Mühe, mich aus den Büchern und Filmen zurück in die Realität zu holen. Von All the Pretty Horses erlaubte ich mir lediglich eine Seite pro Tag zu lesen, um ja nicht der Versuchung zu verfallen, das Buch zu verschlingen. Ich vermisste nichts in meinem Einsiedlerleben. Mit meinen Mitschülern kam ich gut klar, aber ich brauchte sie nicht. Abends war mir nicht danach, ins beleuchtete Zürich einzutauchen, abgesehen davon lud mich auch keiner ein. Ich brauchte meine Ruhe, Menschenmassen lösten Beklemmungen in mir aus.
Es war März, und es fehlten nur noch wenige Monate bis zu den Sommerferien. Ich hatte in meinem alten Leben nichts mehr zu verlieren, und dennoch musste ich es zu Ende leben. Herr Etter half, die Zeit zu verkürzen. In den letzten Schulwochen vor den großen Ferien unternahmen beide Klassen eine Wanderung. Es gab jene, die von dem Vorhaben von vornherein angeödet waren und sich mit jedem Schritt quälten. Ich schloss mich dem Gehabe der Tonangeber in der Stufe nicht an, sondern lief vorne mit – auch wenn das uncool war. Als sich der Weg gabelte, einer zurück ins Dorf, der andere auf die Bergspitze führte, beschloss ich, mit einem der Lehrer und zwei anderen Schülern den Gipfel zu besteigen. Im Steinhaufen unter dem Gipfelkreuz mit Ausblick über die Dächer der Schweiz versteckte ich eine Botschaft, einen Wunsch, und erst nach Sonnenuntergang erreichten wir die Hütte wieder.
Herr Etter ging ohne Erlaubnis des Schuldirektors mit uns zelten, und wir studierten ein Theaterstück ein, in dem ich in einer Szene sogar einen Song darbieten konnte. Als der letzte Schultag kam, fiel mir der Abschied von Herrn Etter am allerschwersten.
Doch der Sommer stand vor der Tür, und ich freute mich, ihn in meine kleine verstaubte Welt einzulassen. Ich wollte die
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