Fraeulein Jensen und die Liebe
trage ich eine Dreiviertel-Hose. So eine mit großen Taschen an den Seiten, die man auch fürs Nordic Walking nimmt. Damit kombiniere ich fachmännisch ein schlichtes, weißes T-Shirt.
Ich bin begeistert: Ich sehe aus wie eine Sportlerin in einer Trainingspause.
Wir rollen langsam im Bahnhof ein. Warum sind die Menschen auf den Bahnsteigen denn alle so luftig angezogen, denke ich. Kaum sind es mal zwanzig Grad, und schon meinen sie, dass Sommer wäre. Leute gibt’s.
Die Türen öffnen sich. Die Frau, die vor mir aussteigt, stöhnt plötzlich laut auf. So schlimm ist es in München nun auch wieder nicht, denke ich. Und der Bahnhof ist doch wirklich sehr schön. Leute gibt’s. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich gehe zur Tür und könnte auf der Stelle umfallen. Mir schlägt eine Hitze entgegen, die ich das letzte Mal gespürt habe, als ich 2003 in Rhodos-Stadt aus einem TUI-Flieger gestiegen bin und mir noch auf der Treppe nach unten geschworen habe, nie wieder im Juli nach Griechenland zu reisen.
Warum ist es bloß so heiß hier? In Hamburg waren es zwanzig Grad, leicht bewölkt. Natürlich hatte ich mir im Vorfeld nicht die Wettervorhersage für München angesehen, schließlich fuhr ich nur ein paar hundert Kilometer in den Süden und nicht direkt ins Herz der Sahara. Hätte der Schaffner uns nicht warnen können? »Sehr verehrte Fahrgäste, wir heizen die Wagen gleich auf 35 Grad auf. Nur damit Sie Bescheid wissen und in München keinen Hitzschlag bekommen.«
Wie gelähmt stehe ich auf dem Gleis. Ob ich mich einfach unter den Mülleimer dort drüben lege? Drum herum sehe ich ein 30 Quadratzentimeter großes Schattenareal. Oder gibt es hier einen Bahnhofskiosk, der über eine Eistruhe verfügt, in die ich mich kurz legen könnte? Und wenn ich gleich wieder in den Zug steige und zurück nach Hamburg fahre? Nein. Interview, schießt es mir durch den Kopf. Interview. Oh Gott. Das ist ja gleich. Ich hatte die Reise so geplant, dass ich jetzt nur noch Zeit habe, um kurz die Koffer ins Hotel zu bringen. Dann muss ich gleich wieder los. Ins Olympiastadion. Ob es Tim Lobinger wohl etwas ausmacht, wenn ich nackt zum Interview erscheine?
Ich wusste nicht, dass das Gelände rund um das Olympiastadion so groß ist wie ein ganzes Bundesland. Vor genau einer halben Stunde bin ich mit der U-Bahn an der Haltestelle »Olympiastadion« angekommen. Ja, vor einer halben Stunde! Seitdem hetze ich an Sportplätzen, Hallen und Grünanlagen vorbei und folge den Schildern, die zur »Werner-von-Linde-Halle« führen sollen, unserem Treffpunkt. Wenn ich von Klixbüll aus eine halbe Stunde lang in eine Richtung laufe, bin ich in Dänemark.
Ich bin so erschöpft wie in meinem ganzen Leben noch nicht. Eine halbe Stunde strammer Fußmarsch bei 38 Grad. Dafür ist mein Körper einfach nicht gemacht. Da, das nächste Schild. Es zeigt nach rechts. Komme ich nicht gerade von rechts? Am liebsten würde ich mich heulend ins nächste Gebüsch legen, aber nein, gleich treffe ich ja meinen Traummann. Vielleicht sind diese ganzen Qualen vergessen, wenn ich vor ihm stehe. Müttern sagt man ja auch immer, dass alle Schmerzen der Geburt vergessen sind, wenn sie ihr Neugeborenes im Arm halten. Vielleicht tritt dieser Effekt ja auch bei mir ein, wenn Tim mir auf die Brust gelegt wird.
Oh Gott, gleich kippe ich um. Ein kleines Auto kommt mir entgegen, so eines, das auch immer auf Golfplätzen herumfährt. Ich stelle mich todesmutig in den Weg und halte es an. »Können Sie mich bitte zur Werner-von-Linde-Halle fahren?«, frage ich keuchend.
»Leider nicht, ich fahre in die entgegengesetzte Richtung. Ist aber nicht mehr weit. Höchstens fünf, sechs Minuten.« Er fährt weiter. Ist das nicht unterlassene Hilfeleistung? Kann ich ihn verklagen?
Ich schleppe mich weiter und tatsächlich: Nach ein paar Minuten sehe ich sie. Die Werner-von-Linde-Halle. Oder ist es eine Fata Morgana? Mit schweren Schritten nähere ich mich. Ich berühre die Wand. Tatsächlich. Echter Stein. Scheint real zu sein. Ich will mich gerade erschöpft auf den Boden fallen lassen, da sehe ich aus dem Augenwinkel eine Person, die mir zuwinkt.
Ich muss einen bemitleidenswerten Eindruck machen. Jetzt winken mir schon fremde Leute aufmunternd zu.
»Hannah?«
Jetzt kennen fremde Leute schon meinen Namen.
Die Person kommt mit schnellen Schritten auf mich zu.
Ich verenge die Augen zu kleinen Schlitzen und versuche, die schemenhafte Gestalt scharf zu stellen. Groß und männlich,
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