Fraeulein Stark
nach wie vor kamen die Busse, nach wie vor die Frischvermählten, und da nun auch die Schüler kamen, begann für die Stiftsbibliothek unmittelbar nach der Augustflaute die beste Zeit des Jahres. Es strömten die Gruppen, es drängelten die Klassenfahrten, und alle paar Tage tippelte ein Pulk Japaner auf mich zu, faßte stumm die Pantoffeln, verneigte sich knapp, dann zog einer hinter dem andern, als liefen sie am Seil, ins Innere, wo sie sich von einer Vitrine zur nächsten schlängelten, von der Nibelungen-Handschrift B bis zur ägyptischen Mumie. Manchmal waren wir derart überlaufen, daß sogar der greise Türhüter aus seiner Versteinerung erwachen und die eine oder andere Gruppe führen mußte, vom Mittelalter in den Barock, von der Morgenseite (mit den Schränken DD bis QQ) bis zur Abendseite (CG bis PP). Auch das Fräulein Stark wurde jetzt häufig auf schwierige Missionen geschickt. Der Onkel hatte ihr ein paar lateinische Floskeln beigebracht, so daß ausgerechnet sie, die Analphabetin, die aus aller Welt anreisenden Gelehrten am Bahnhof abholen und zum Onkel ins Büro führen durfte: Venite, librorum amatores, hoc est praefecti nostri tabularium -folgt mir, Bücherfreunde, hier geht es zum Büro unseres Chefs!
Natürlich hätte ich die lateinischen Floskeln leichter gelernt und korrekter beherrscht als die Appenzellerin, aber zum einen wurde ich dringender als je in den Pantoffeln gebraucht, und zum andern eignete ich mich als Führer einer Schülerschar weitaus besser als der kopfwacklige, die Zeitalter verwechselnde Türhüter. Nachdem ich dafür gesorgt hatte, daß alle in ihre Filze geschlüpft waren, hob ich die Rechte, zeigte nach oben und sagte im salbungsvollen Onkelton: Meine lieben Primär-Schülerinnen aus dem schönen Niederbipp bei Solothurn, im Anfang war das Wort, dann kam die Bibliothek, und erst danach, also an dritter und letzter Stelle, kommen wir, wir Menschen und die Dinge. Nomina ante res!
Nomina ante res, wiederholte ich.
Blaue Augen, blonde Zöpfe, da war nichts zu machen. Ich winkte sie ms Innere, dann legte ich meine Seidenhand um den Ellbogen der Lehrerin und bat sie, den Blick noch einmal nach oben zu richten, auf die Inschrift im Portalbogen. Diodorus Siculus, flüsterte ich, erstes
Jahrhundert ante Christum natum.
Hä?
Dumme Kuh! Aber bitte, das ist das Los eines vom Onkel geprägten Kulturführers. Entweder hat man es mit den schlichtesten Varianten zu tun oder -was noch schlimmer ist, viel schlimmer! - mit dem Typ des Besserwissers. Der kann einen wirklich fertigmachen, und ich muß gestehen: Dies ist mir öfter passiert. Man er^ kennt den Besserwisser auf Anhieb, und zwar am Blick, das heißt an den grauverschleierten, vollkommen interesselosen Augen seiner Gattin, die der Besserwisser im Schlepptau führt wie ein Japaner den andern. Kaum hat er den Saal betreten, fuchtelt der Besserwisser zur sterbenden Cäcilia hinauf, weist auf die Stellung der Füße hin, erklärt die Farbe des Blutes, dann will er hören, wer sie gemalt habe, vermutlich Stefano Maderno, ich bejahe, worauf der Besserwisser, vor lauter Stolz in den Knien wippend, noch rasch das Datum angibt: Um 1599 herum, nicht wahr?
Jawohl, Herr Doktor.
Na, Elfriede, wer sagts denn, bemerkt der Besserwisser und schleppt die tödlich ermattete Gattin zu den Vitrinen hinüber, wo er ihr weitere Bravourstücke seines Wissens vorführen wird. Ei, was haben wir denn da, etwa ein »Laus tibi Christe«, eine handschriftliche Sequenz zum Festtag der Unschuldigen Kinder, gedichtet vom St. Galler Mönch Notker, genannt Notker Balbulus, Notker der Stammler, circa 840 bis 912?
Bref: Wir alle hatten viel zu tun, waren dauernd im Einsatz, die Hitze hielt an, und weitere Reklamationen, registrierte ich erfreut, lagen offensichtlich nicht vor -inzwischen hatte ich natürlich dazugelernt und wurde im Umgang mit meinen Damen raffinierter, handfertiger, blickgewandter.
Oft kochte das Fräulein für mehrere Gäste, Gelehrte aus aller Welt, denen der Stiftsbibliothekar zur Laute lateinische Gedichte sang, Ovid oder Horaz, von ihm selber vertont, was mit Beifall quittiert wurde. Gelobt wurde auch das Fräulein, vor allem für ihre Bodensee’ fische, und einmal kam es sogar vor, daß ein Amerikaner, der ursprünglich aus Riga stammte, John Annus sein Name, die Eßzimmertafel mit zwei Flaschen verließ und sich nach nebenan setzte, wo er gemeinsam mit dem mädchenhaft kichernden Fräulein, wie der Onkel erstaunt bemerkte, den
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