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Fraeulein Stark

Titel: Fraeulein Stark Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Huerlimann
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Doppelkinn, Wulstbäuchen, mehreren Brüsten, Fingerklumpen und teigartig aus dem Schädel aufblähenden Geschwüren versehen, doch als man schon befürchten mußte, ihr unentwegtes Wuchern könnte sie auf Walfischgröße anschwellen lassen, ging es mit der Seidenherrin auf einmal in die umgekehrte Richtung: Sie schrumpfte, sie nahm ab. In den allervornehmsten Decken, Linnen und Laken aus eigener Produktion allmählich versinkend, nahm sie von Katz, ihrem zweiten Mann, und den beiden Kindern, die sie ihm geschenkt hatte, leise leidend Abschied. Eben war sie noch eine Riesin gewesen, Gebieterin über die Feinspinnerinnen und all die Schleif-, Wickel-, Spul-und Zwirnmaschinen, und jetzt? Jetzt ragte aus den vielen Seidenkissen nur noch eine knochenweiße Nase hervor, scharf wie eine Flosse. Mit einem letzten, kaum hörbaren Seufzer tauchte sie ab, und Jacobus, der älteste Sohn, und die kleine Theres wußten im selben Augenblick, daß mit der Mutter auch der Wohlstand verschieden war. Sie hatten ihn nur noch nach außen behauptet, hinter den Mauern waren sie längst verarmt, doch nun -das ahnten die beiden Katzenkinder würden sie auch die Villa verlieren, die letzten Teppiche, das Silberbesteck, die Gobelins und die Fabrik. Mit der Seidenherrin ging eine Welt unter und vermutlich auch eine Zeit, ein längst überfälliges Jahrhundert.
    Das blutjunge, wunderbar reiche Fräulein Singer hatte seinerzeit den alten Zellweger geheiratet. Für beide soll es eine gute Partie gewesen sein. Sie gehörte nun zu den ersten Familien des Kantons, und er war saniert, jedenfalls gerettet. Ein besserer Geschäftsmann wurde er durch die Heirat nicht, im Gegenteil, nun trieb es Zellweger noch wilder, bis er schließlich, in dubiose Händel verstrickt, in einem Wäldchen bei Warschau von einem Duellgegner erschossen wurde. Drei Monate später nahm die Witwe den jungen Dr. jur. Joseph Katz, Sohn eines Schneiders, zum zweiten Mann -so einer, dachte sie wohl, könnte ihr helfen, das wacklige Unternehmen ein weiteres Mal zu retten. Da kam der Erste Weltkrieg, es kam die Revolution, und über Nacht waren die adligen Damen mit ihren Seidenblusen und Sonnenschirmchen verschwunden, füsiliert vertrieben verhungert, und für das grobe Tuch, das jetzt verlangt wurde, um daraus Notdecken, Uniformen und Soldatenmäntel zu nähen, hatte die KatzZellwegersche Fabrik weder die richtigen Maschinen noch die geeigneten Webstühle. Joseph Katz ließ nichts unversucht, um die Textilfabrik zu halten, doch schien er von Anfang an gewußt zu haben, daß er gegen Windmühlen kämpfte -die Zeit der feinen Stoffe war passe. Nachdem man seine Frau begraben hatte, ließ er sich in die Stadt fahren und gab die Fabrik in Konkurs. Auf den Photos, die er von sich und der Kleinen noch immer schießen ließ, sitzt Theres unter einem weißen Seidenschirmchen zu seinen Füßen, und Joseph Katz, der später mein Großvater wurde, bildet mit der linken Augenbraue, als würde er dem Photographen mißtrauen, ein Katzenöhrchen.

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    Ob sie damals noch in der Villa lebten, konnten die Hilfsbibliothekare nicht sagen, auf dem Photo stand kein Datum, allerdings ergab sich daraus, daß Jacobus, der älteste Sohn, zu jener Zeit schon fort war. Wenige Tage nach dem Begräbnis und dem Versiegeln der Fabrik muß er die Berufung zum Priester gefühlt haben, jedenfalls war er Hals über Kopf in ein Seminar geflüchtet, wo sie ihn, wie er begeistert nach Hause schrieb, mit offenen Armen empfangen hätten. Der junge Jacobus war eifrig und gescheit, witzig vor den Menschen, demütig vor Gott, summa cum laude, Dr. phil. und Dr. theol., auch als Prediger begabt, die Rede geschliffen, die Feder spitz, die Karriere begann, schon rief man ihn nach Rom, ließ ihn weiterstudieren, lobte und förderte ihn, doch zeigte sich bald, daß der rundliche Jacobus Katz für den vatikanischen Schmelztiegel, dem in der Regel hagerstrenge Jesuiten entstiegen, ganz und gar nicht geschaffen war. Sein Eifer erlahmte. Die scholastische Frage, wie viele Engel, da sie doch wesenlos seien, auf einer Nadelspitze Platz hätten, hielt er in einer Zeit, da die fackeltragenden Schwarzhemden immer zahlreicher wurden, für zweitrangig. Den Duce fand er interessanter als den Papst, die Gegenwart erschien ihm wichtiger als die Vergangenheit, bei uns in Rom, schrieb er in einer Broschüre, hat die Zukunft schon begonnen. Offensichtlich begann sie ohne ihn, denn im selben Jahr, da die Broschüre verlegt wurde, tauchte er in

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