Frag die Toten
schwieg. Nach einer ihrer Meinung nach dramaturgisch angemessenen Pause sagte sie: »Ich glaube, ich kann Ihnen da helfen, wo die Polizei es nicht kann.«
»Tatsächlich?«
»Die Polizei macht ihre Arbeit, aber niemand dort ist geschult – wie heißt das so schön? –, um die Ecke zu denken. Mein Angebot ist eher … unkonventionell.«
»Ich höre.«
Sie sah ihm direkt in die Augen. »Ich sehe Dinge, Mr. Garfield.«
Sein Mund klappte auf, doch einen Augenblick fehlten ihm die Worte. Schließlich sagte er: »Sie sehen Dinge.«
»Genau, ich sehe Dinge. Ich will es so einfach und geradeheraus sagen, wie ich kann. Mr. Garfield, ich habe Visionen.«
Er lachte auf. »Visionen?«
Keisha ließ sich nicht beirren. »Ja«, sagte sie. Mehr nicht. Sie musste ihn aus der Reserve locken. Dazu bringen, Fragen zu stellen.
»Was sind das denn für, äh, Visionen?«
»Ich besitze diese Gabe – wenn man es so nennen kann, ich bin mir gar nicht so sicher – schon von Kindheit an, Mr. Garfield. Ich habe Visionen von Menschen in Not.«
»In Not«, sagte er leise. »Was Sie nicht sagen.«
»Ja«, sagte sie.
»Und Sie hatten eine
Vision
meiner Frau? In Not?«
Sie nickte ernst. »Ja, Mr. Garfield.«
»Aha.« Er lächelte gedankenverloren. »Und Sie haben sich entschlossen,
mich
an dieser Vision teilhaben zu lassen und nicht die Polizei.«
»Sie werden das sicher verstehen, Mr. Garfield, aber Polizisten stehen Menschen mit meinen Fähigkeiten oft sehr kritisch gegenüber. Und es ist nicht Skepsis allein. Wenn ich Fortschritte erzielen kann, wo ihnen das nicht gelungen ist, haben sie das Gefühl, sich blamiert zu haben. Deshalb wende ich mich lieber gleich an die Betroffenen.«
»Selbstredend«, sagte Garfield. »Und woher kommen diese Visionen? Von einer Fernsehantenne in Ihrem Kopf vielleicht?«
Sie lächelte. »Ich wünschte, ich könnte Ihre Frage allgemein verständlich beantworten. Wenn ich nämlich wüsste, woher diese Visionen kommen, dann fände ich vielleicht auch einen Weg, sie auszuschalten.«
»Dann sind sie also Fluch und Segen zugleich«, sagte er.
Keisha ignorierte seinen Sarkasmus. »Schon ein bisschen. Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Eines Abends, das ist jetzt etwa drei Jahre her, ich war gerade auf dem Weg ins Einkaufszentrum und nur mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, da hatte ich auf einmal dieses … Bild im Kopf. Ich konnte fast nichts mehr sehen. Es war, als hätte sich meine Windschutzscheibe in eine Filmleinwand verwandelt. Ich sah dieses Mädchen. Es war bestimmt nicht älter als fünf oder sechs. Und es war in einem Schlafzimmer. Nicht in einem Kinderzimmer. Es gab keine Puppen, kein Spielhaus oder so was. Das Zimmer war voller Fanartikel. Trophäen, Poster von Fußballspielern an der Wand, ein Baseballhandschuh auf dem Schreibtisch, ein Baseballschläger in einer Ecke. Und das kleine Mädchen weinte und sagte immer wieder, es wolle nach Hause. Flehte jemanden an, es gehen zu lassen. Und dann war da die Stimme eines Mannes, und er sagte, es ist noch nicht so weit, du kannst noch nicht nach Hause, wir müssen uns erst besser kennenlernen.«
Sie holte Luft. Garfield täuschte Desinteresse vor, doch sie merkte, dass sie ihn an der Angel hatte.
»Tja, ich wäre fast von der Straße abgekommen. Ich legte eine Vollbremsung hin und blieb am Straßenrand stehen. Inzwischen waren diese Visionen, diese Bilder aber wieder verschwunden, wie Rauch, den der Wind verweht hat. Aber ich wusste doch, was ich gesehen hatte. Ich hatte ein kleines Mädchen gesehen, das in Not war. Ein kleines Mädchen, das gegen seinen Willen festgehalten wurde.
In diesem Fall beschloss ich, mich an die Polizei zu wenden. Ich wusste ja nicht, um wen es hier ging. Ich rief an und sagte: ›Suchen Sie gerade nach einem vermissten Mädchen? Ist das vielleicht ein ganz neuer Fall, über den noch nicht berichtet wurde?‹ Tja, die haben sich ganz schön gewundert. Sagten, sie könnten dazu nicht Stellung nehmen. Da fragte ich: ›Ist die Kleine vielleicht so um die sechs Jahre alt? Und trug zuletzt ein T-Shirt mit einer Figur aus der
Sesamstraße
drauf?‹ Jetzt hatte ich ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie haben mir einen Ermittler geschickt, der von Visionen so viel hielt wie Sie wahrscheinlich. Vielleicht dachten sie ja auch, ich hätte was mit dem Verschwinden der Kleinen zu tun, woher sollte ich sonst solche Details wissen? Aber ich sagte zu ihm, reden Sie mit der Familie, fragen Sie, ob die jemanden
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