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Frag die Toten

Frag die Toten

Titel: Frag die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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dann behauptete sie auch noch, es sei »definitiv nicht auf der Straße«.
    Wo sie recht hatte, hatte sie recht.
    Der Wagen befand sich auf dem Grund des Fairfield Lake, gute sechzig Kilometer nördlich von hier. Niemand würde ihn je finden, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Das Wasser dort war bestimmt zehn, fünfzehn Meter tief. Und wahrscheinlich schon wieder zugefroren. Seit Donnerstagabend war es kälter geworden. Dass irgendjemand das Auto vor dem Frühjahr fand, war mehr als unwahrscheinlich. Und auch dann musste jemand direkt dort tauchen, um darauf zu stoßen. Selbst wenn der Haken eines Fischers sich darin verfangen sollte, würde der Nissan nicht plötzlich nach oben steigen wie ein altes Boot. Der Fischer würde die Leine abschneiden und einen neuen Haken daran befestigen müssen.
    Woher konnte Keisha Ceylon wissen, dass der Wagen nicht auf der Straße war?
    War vielleicht nur ein Glückstreffer, mehr nicht. Aber wenn doch nicht?
    Dann gab es für Garfield nur zwei denkbare Szenarios.
    Szenario Nummer eins: Die Frau hatte tatsächlich so etwas wie das zweite Gesicht. Allerdings hatte er an so etwas noch nie geglaubt, anders als seine ältere Schwester Gail, die es durchaus für möglich hielt, dass sie in einem früheren Leben Königin Nofretete gewesen war, alles von der Hellseherin Sylvia Browne kaufte – nicht nur die gedruckten, sondern auch die Hörbücher, um sie sich beim Autofahren anhören zu können. Und ihr Vater, kaum hatte er die Augen für immer geschlossen, sei ihr erschienen, um ihr zu sagen, wie leid es ihm tue, dass er ihr nie gesagt hatte, wie lieb er sie habe. Gails Mann Jerry erzählte zwar, zu diesem Zeitpunkt habe sie geschnarcht, dass die Wände zitterten, aber sei’s drum.
    Garfield war skeptisch, aber durchaus bereit einzuräumen, dass es Kräfte geben könnte, die er nicht ausreichend verstand. Vielleicht gab es ja Menschen mit einer besonderen Sensibilität, die sie empfänglich machte für Dinge, die den meisten anderen verborgen blieben. Vielleicht hatte diese Frau ja Visionen. Wie war die Geschichte von Nina, dem kleinen Mädchen, das der Nachbar entführt hatte, sonst zu erklären?
    Wenn sie also tatsächlich diese Gabe besaß und wenn sie in einer ihrer Visionen Ellie gesehen hatte, dann wusste sie etwas.
    Szenario Nummer zwei – und nicht weniger beunruhigend: Diese Hellseherei war reines Theater. Hokuspokus. Der totale Beschiss. Ein Zirkus, den sie veranstaltete, um zu verbergen, dass das Wissen, über das sie verfügte, auf andere, weit weniger mystische Art über sie gekommen war.
    Dann hatte sie
gesehen,
was sich ereignet hatte. Aber nicht in einer Vision, sondern mit eigenen Augen.
    Das waren Garfields Überlegungen auf dem Weg in die Küche, wo er die dreihundert Dollar und sein Scheckheft holen wollte.
    Angenommen, sie wäre dort gewesen?
    Was, wenn Keisha Ceylon an diesem Abend am See gewesen wäre? Vielleicht wohnte sie in einer der Hütten, die das Ufer säumten? Auf der Fahrt zum See war Garfield überzeugt gewesen, dass es keine Zeugen geben würde. An diesem Uferabschnitt standen hauptsächlich Ferienhäuser, die um diese Jahreszeit alle mit Brettern verschlagen waren. Spätestens Ende November hatten die meisten Besitzer das Wasser abgedreht, die Leitungen mit Frostschutzmittel präpariert, Mausefallen aufgestellt, Mottenkugeln verteilt, die Fenster verhängt und sich in ihre bequemen, warmen Stadthäuser zurückgezogen, die sie bis zum Frühjahr nicht mehr zu verlassen gedachten.
    Jetzt musste Garfield sich allerdings mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass eine der Hütten doch bewohnt war. Dass jemand – Keisha vielleicht – an jenem Abend aus dem Fenster gesehen und einen unbeleuchteten Wagen entdeckt hatte, der auf den nur mit einer dünnen Eis- und Schneeschicht bedeckten See hinausgefahren wurde. Das Mondlicht hätte genügt, um zu sehen, was zu sehen war.
    Jemand konnte beobachtet haben, wie der Wagen im Schritttempo hinaus auf den See fuhr und dort anhielt. Konnte den Mann gesehen haben, der auf der Fahrerseite ausstieg. Einen Mann, der einen Besen in der Hand hatte und ihn dazu benutzte, auf dem Rückweg zum Ufer die Reifenspuren auf dem Schnee zu verwischen.
    Dieser Jemand konnte schließlich beobachtet haben, wie der Mann am Ufer stehen blieb, auf den See hinaussah und wartete.
Wartete,
dass der Wagen durch das dünne Eis brach.
    Die Erinnerung jagte Garfield einen Schauer über den Rücken. Ein quälend langes Warten war es gewesen.

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