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Frag die Toten

Frag die Toten

Titel: Frag die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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Während er in der Eiseskälte am Ufer stand, war er auf einmal überzeugt gewesen, der Wagen würde gar nicht einbrechen. Er würde stehen bleiben und am nächsten Morgen, wenn die Sonne aufging, noch immer da stehen.
    Mit ihm die Leiche seiner Frau, angeschnallt auf der Beifahrerseite.
    Kunden im Heimwerkermarkt, die da oben wohnten, hatten davon gesprochen, dass der See jetzt ziemlich schnell zufror, dass man schon darauf gehen konnte, die Eisdecke aber noch nicht dick genug war, um richtiger Belastung standzuhalten. Zumindest nicht lange.
    Es hatte ihn nicht besonders interessiert. Doch dann, am Abend, erinnerte er sich wieder an diese Bemerkung.
    Als es passiert war. Als sie tot war.
    Als er einen Plan brauchte.
    Vielleicht war Keisha Ceylon dort gewesen, da oben am See. Vielleicht war
sie
dieser Jemand gewesen, der von einer der Hütten aus alles beobachtet hatte. Als die Sache mit seiner Frau in den Nachrichten kam, hatte sie zwei und zwei zusammengezählt.
    Und jetzt ist sie hier und will Geld von mir,
dachte er. Sie erpresste ihn nicht direkt. Wenn sie das täte, wenn sie zu ihm sagen würde: »Ich habe gesehen, was Sie getan haben, und ich werde damit zur Polizei gehen, wenn Sie mir kein Geld geben«, das wäre ziemlich riskant. Er könnte einen Weg finden, sie auch ohne Geld zum Schweigen zu bringen.
    Könnte sie einfach umbringen.
    Doch ihm mit ihrer Hellseher-Nummer zu kommen, das war ein Geniestreich. Sie wusste genug, um seine Neugier, ja seine Besorgnis zu wecken. Ihn dazu zu bringen, ihr Geld zu geben, um zu erfahren, wie viel sie wirklich wusste. Sobald sie das Geld hatte, würde sie ihn mit vagen Andeutungen abspeisen, ihn weiter im Unklaren lassen. Sie würde nichts preisgeben, nie damit herausrücken müssen, dass sie dort gewesen war. Aber er würde wissen, dass sie ihn, wenn sie wollte, für den Rest seines Lebens hinter Gitter bringen konnte.
    Pech, dass Keisha Ceylon nicht annähernd so klug war, wie sie dachte.
    Wendell Garfield würde es nicht darauf ankommen lassen.

[home]
    Elf
    A ls ihr Vater sie vor dem Haus abgesetzt hatte, ging Melissa hinauf in ihre Wohnung. Ihr war schwindlig. Und schlecht.
    Keine Minute nachdem sie die Wohnung betreten hatte, stürzte sie schon ins Bad. Sie kniete sich vor die Toilettenschüssel. Gerade noch geschafft.
    Beim Putzen blickte ihr plötzlich ihr eigenes Gesicht aus dem Spiegel entgegen. »Du siehst scheiße aus«, sagte sie. Ihr Haar war ungewaschen und strähnig, unter ihren Augen lagen tiefe Ringe. Das war nicht weiter verwunderlich, schließlich hatte sie seit Donnerstagabend kaum geschlafen.
    Melissa legte die Hand auf ihren großen Babybauch, strich darüber, spürte, wie sich unter ihrer Hand etwas bewegte. Dann merkte sie, wie sie am ganzen Leib zu zittern begann und ihre Augen feucht wurden. Bei all den Tränen, die sie in den letzten Tagen vergossen hatte, hätte ihr Reservoir längst erschöpft sein müssen. Doch sie flossen noch immer reichlich.
    Sie wollte sich im Bett verkriechen und nie wieder aufwachen. Einfach die Decke über den Kopf ziehen und dort bleiben. Sich der Welt nie wieder stellen müssen.
    Es war so entsetzlich.
    Ständig kreisten ihre Gedanken um ihre Mutter, um ihren Vater, um Lester, um das Baby, darum, dass ihr im vergangenen Jahr die Kontrolle über ihr Leben völlig entglitten war. Und dass es nicht den Anschein hatte, als würde sich das zum Besseren wenden.
    Sie dachte an die Pressekonferenz. Wie sehr ihr Vater dagegen gewesen war, dass sie daran teilnahm.
    »Tu das nicht«, hatte er zu ihr gesagt. »Tu dir das nicht an. Es ist nicht nötig. Ich schaff das auch allein.«
    »Nein, ich sollte dabei sein.«
    »Melissa, ich sage dir –«
    »Nein, Dad. Ich muss es tun. Du wirst mich nicht aufhalten.«
    Sie erinnerte sich daran, wie er sie am Arm gepackt, wie er ihr fast weh getan hatte. Wie er ihr in die Augen gesehen hatte. »Ich sage dir, es wäre ein Fehler.«
    »Wenn ich’s nicht tu«, hatte sie gesagt, »dann glauben die Leute, dass es mir egal ist.«
    Da hatte er nachgegeben, wenn auch widerstrebend. Doch er hatte ihr unmissverständlich klargemacht, was er von ihr erwartete. »
Ich
rede. Von dir will ich kein Wort hören, verstanden? Heulen kannst du, so viel du willst, aber sagen wirst du nichts, keinen Mucks.«
    Sie hatte sich daran gehalten. Hätte wahrscheinlich ohnehin kein Wort herausgebracht. Heulte sich nur die Augen aus, so wie er es erwartet hatte. Und diese Tränen waren auch noch echt. Sie konnte

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